Die Besinnlichkeit der Strenge
Lucinda Childs mit vier neuen Stücken auf Kampnagel
Oft sind es die kleinen Veranstaltungen in den abseits liegenden Hallen auf Kampnagel, die einem Festival genau die poetische und besinnliche, aber auch kraftvolle Prägung verleihen, die man in dem überlauten, effekthascherischen Gepränge sonst gerne übersieht. So zu erleben in diesen Tagen beim Internationalen Sommerfestival in Hamburg. Da hob Mackenzy Bergile, geboren in Paris mit haitianischen Wurzeln und als Tänzer, Pianist und Schriftsteller ein künstlerisches Allroundtalent, in der P1 seine jüngste Kreation aus der Taufe: „Autothérapie: Unbolting colonial statues form our consciousness“ (Selbsttherapie: Die Entflechtung kolonialer Statuen formt unser Bewusstsein). Und gut zwei Stunden später pfefferten sechs Majorette-Tänzerinnen Ogemdi Udes „Major“ auf die Bühne der K1 – stärker könnten Kontraste kaum sein.
Leise Eindringlichkeit
Mackenzy Bergile verarbeitet in seinem Stück seine eigene Familiengeschichte. Haiti, so sagt er im Publikumsgespräch nach der Vorführung, ist ein Schmelztiegel, in dem sich die indigene Bevölkerung mit den aus Afrika deportierten Sklaven und den französischen Kolonialherren vermischte, ebenso die Religion des haitianischen Vodou mit dem Katholizismus und afrikanischer Spiritualität. In Haiti, so Bergile, verbindet sich die Kolonialzeit mit dem heutigen Amerika, Afrika und Europa. Das spiegelt sich auch in seiner Familie: Sein Vater ist Vodou-Priester, seine Mutter Katholikin. Und so leben in ihm viele Erinnerungen an all diese historischen Zusammenhänge, was schon zu Beginn durch eine Schrift auf der hinteren Wand seiner schachtelartigen minimalistischen Bühnen zeigt: „What I am is never just me“.
Seinen Ausgang nahm „Autothérapie“ am Strand von Benin, wo einst der Sklavenhandel blühte und die Schiffe in Richtung Amerika ablegten. Als er dort gestanden und aufs Meer geblickt habe, seien ihm sofort die Tränen gekommen, erzählt Mackenzy Bergile. Und als seine damals einjährige Tochter ihm gesagt hat: „Don’t worry, Daddy“, da habe er gewusst, dass er eine Therapie machen müsste.
Die Texte, die in diesem Zusammenhang entstanden, waren die Basis für dieses ungemein dichte, nachdenkliche und im Innersten berührende Werk. Dass es mit dem Ave Maria von Franz Schubert (in einer Aufnahme mit Jessye Norman) beginnt und endet, kommt nicht von ungefähr: Im Jahr 1825, in dem Schubert dieses Lied komponierte, zwang Frankreich der früheren Kolonie für die Unabhängigkeit eine „Ausgleichszahlung“ in Höhe von (heute umgerechnet) 3,6 Milliarden Euro auf, an deren Folgen das Land bis heute leidet.
Historische Parallelen
Das ist nur eine der historischen Parallelen, die Bergile in seinem gut einstündigen Solo aufgreift. Eine weitere ist der Fall des Afroamerikaners George Junius Stinney jr., der am 16. Juni 1944 als 14-Jähriger in den USA wegen Mordes an zwei Mädchen zum Tode auf dem elektrischen Stuhl verurteilt wurde – ohne jeden Beweis. Nur zehn Tage vorher hatte die Aktion „D-Day“ begonnen, die Landung der Alliierten in Europa, die das Ende des Zweiten Weltkriegs einläutete. Bergile geht es dabei aber nicht um eine anklagende Schwarz-Weiß-Malerei, sondern vor allem um die vielen Grautöne, die unzähligen Schattierungen der Geschehnisse und die verblüffenden historischen und menschlichen Verbindungen.
Er berührt nicht nur durch die in Erinnerung gerufenen Verbrechen gegenüber der schwarzen Bevölkerung, egal, ob in Haiti, in den USA oder anderswo, sondern genauso durch die Intensität der Darstellung und seine bestechende Körperbeherrschung mit einer raffinierten Fußarbeit. Und das in einer Stille und Zurückhaltung, mit sparsamen, aber umso eindrücklicheren Mitteln, die gerade deshalb so intensiv nachhallen. Das ist große Kunst, der man eine weite Verbreitung wünscht.
Geballte Frauenpower
Umso größer dann der Kontrast zu Ogemdi Udes „Major“, in dem sechs Tänzerinnen in anfangs blauen Trainingsanzügen mit Glitzerbesatz und später in durchlöcherten Ganzkörpertrikots eine ganz eigene Version des Majorette-Tanzstils feiern. Majorette entstand im 19. Jahrhundert mit weiblich besetzten Marching-Bands, die heute noch in den Cheerleadern bei großen Sportereignissen weiterleben.
Ude löst die strengen Regeln dieser Gruppenarrangements auf ihre Weise auf und ermöglicht ihren sechs Tänzerinnen, daraus etwas ganz Eigenes, ungemein Mitreißendes zu machen – in den teilweise hoch akrobatischen Soli, aber auch in fulminanten Ensembles. Jede bringt hier ihre individuellen Qualitäten mit ein, und doch ist keine darin isoliert. Immer wieder blitzt Humor auf, immer wieder unterstützen sich die Frauen gegenseitig – das ist geballte Frauenpower pur! Der Beifall dafür in der K1 war kurz, aber ungemein herzlich und wertschätzend, was sich anschließend hinter der Bühne in einem vernehmbar großen Jubel des Ensembles spiegelte.
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