Spektakulär und politisch
(La)Horde mit „Marry Me In Bassiani“ in der Kampnagelfabrik
Man durfte gespannt sein auf diese Eröffnung des alljährlichen Sommerfestivals auf Kampnagel, das seit nunmehr zehn Jahren von András Siebold geleitet wird. Wie immer hatte er für den Auftakt eine bereits bekannte Tanzkompanie eingeladen (und ebenso wie immer fristet der Tanz unter den über 150 Veranstaltungen im Rahmen des Festivals eher ein Schattendasein). Dieses Jahr war es (LA)HORDE und das Ballet National de Marseille mit einer Weltpremiere – eine sichere Bank für ein ausverkauftes Haus und die nötige Aufmerksamkeit. Die Gastspiele des Ensembles in den Vorjahren waren viel beachtete und zu Recht umjubelte Auftritte (z.B. 2019 mit „Marry Me In Bassiani“, siehe tanznetz vom 10.8.2019 und ein Jahr zuvor mit „To Da Bone“, siehe tanznetz vom 25.8.2018). Vollmundig wie immer deshalb die Ankündigung für dieses Jahr: Das (LA)HORDE-Choreograf*innen-Trio aus Marine Brutti, Jonathan Debrouwer und Arthur Harel sei für „eine der größten Frischzellenkuren im Tanz verantwortlich“, schreibt András Siebold im Programmheft, das Trio inszeniere gerade die bevorstehende Welttournee für Madonna (hört, hört!). Dass man mit „Age of Content“ eine Weltpremiere auf Kampnagel geholt habe, wurde gleich mehrfach hervorgehoben, mit und ohne Ausrufezeichen.
Die Rechnung ging allerdings nicht wirklich auf. Zwar war die K6 ausverkauft (und auch insgesamt läuft der Vorverkauf für das gesamte Festival sehr gut), „Age of Content“ enttäuscht jedoch sowohl hinsichtlich der Choreografie wie auch der Dramaturgie, und es wäre ein noch größerer Reinfall, gäbe es nicht die exzellenten Tänzer*innen, die vor allem im Finale das Ganze durch ihre Virtuosität und Dynamik herausreißen.
Los geht es mit einem quälend in die Länge gezogenen Entrée, bei dem sich ein ferngesteuertes, bis auf das Rahmengestänge und die Plastik-Windschutzscheibe skelettiertes Auto mit erleuchteten Scheinwerfern langsam durch den weitgehend leeren Raum bewegt (Bühne: Julien Peissel). An der linken Seite ist ein Gerüst aufgebaut, von dessen Balkon ein Mann das Auto lenkt. Ein Haufen Kartons stapelt sich vor einem Garagentor, das mit Kawumm aufklappt, als sich das Auto nähert und eine Person aus von hinten erleuchtetem Nebel entlässt. Gekleidet in einen blassgrünen Overall, die Kapuze über den Kopf gezogen, das Gesicht mit Gaze verdeckt (Kostüme: Salomé Poloudenny) schiebt sie sich roboterähnlich zu elektronischen Klangcollagen (Musik: Pierre Avia, Gabber Eleganza) dem Auto entgegen. Erklettert es, vollführt akrobatische Bewegungen darauf, fällt runter, lässt sich ziehen oder schieben – ein seltsamer Machtkampf zwischen der Maschine und dieser undefinierbaren Gestalt. Eine gute Viertelstunde lang geht das so in Zeitlupe hin und her, dann schälen sich andere, ebenso gekleidete Wesen aus dem die Bühne nach hinten raumhoch abgrenzenden grauen Vorhang. Fortan entwickelt sich eine Art Bandenkrieg auf und mit dem Auto, das – hydraulisch betrieben – unter Zischen und Fauchen wie ein Rodeo-Pferd nach links und rechts und oben ausschlägt und sich somit der Meute immer wieder entledigt, bis alle verschwinden und das Auto im Dunkel verschwindet.
In die Stille hinein klappt plötzlich ein Quadrat der über die Bühne gespannten, aus marmoriertem Milchglas bestehenden Kassettendecke auf, und ein Mensch fällt hinter die Kartons herunter – jetzt erkennbar als solcher und in Alltagsdress gekleidet. Wiederum scheint er sich wie aus einer fremden Welt ferngesteuert zu bewegen, den Hintern weit rausgestreckt, den Oberkörper vorgeschoben. Der Vorhang öffnet sich und gibt den Blick frei auf eine glutrote Höhle, die sich im weiteren Verlauf zu einer apokalyptisch zerstörten Ödnis weitet. Ein zweiter Mensch nähert sich, und so entspinnt sich zwischen beiden mit eintönig sich wiederholenden ruckhaften Bewegungsmustern aus Wackeln und Wiegen und Spreizen wiederum ein langwieriger Kampf, bei dem es keinen Sieger gibt. Plötzlich stürmen die anderen Tänzer*innen die Szenerie – jetzt in mal mehr, mal weniger knappe bunte Fummel gehüllt. Und wiederum entwickelt sich ein monotoner Kampf, wiederum mit sich ständig wiederholenden Bewegungen. Zwei stellen sich in die Mitte und deklamieren einen Text: „Let’s dance for a while. Heaven can wait. We are only watching the sky. Hoping the best, but expecting the worse.” Mit den Fingern werden Münder gedehnt, das Gesicht zur Fratze verzerrt, die blutrote Ödnis erlischt und macht einem Vollmond Platz, der ein Paar bescheint, das sich – jetzt zur Minimal Music von Philip Glass – mit unmissverständlichen Kopulationsbewegungen, mit Fummeln und Rammeln zu diversen Stellungen vereinigt, was schließlich auch die anderen auf den Plan ruft, die sich gleichermaßen betätigen. Und so dehnt sich das weiter, bis schließlich zum Finale alle noch einmal in einer wahren Schlussextase die plötzlich hell erleuchtete Bühne stürmen und ein mitreißendes, heiter-übermütiges Spektakel entfachen. Man versteht nicht so recht, warum sich das zuvor so düstere Geschehen jetzt schlagartig in eitel Sonnenschein auflöst, warum die bislang gespenstisch ausdruckslosen Gesichter lachen und die Mienen heiter und gelöst erscheinen. Und doch sind es diese zehn Minuten, die wenigstens ein bisschen mit dem versöhnen, was man vorher über eine Stunde lang aushalten musste.
Vielleicht muss man sehr jung sein, um die verschiedenen Anspielungen auf TikTok und bestimmte Computerspiele zu verstehen – bei einem derart gemischten Publikum, wie es sich beim Sommerfestival auf dem Kampnagelgelände und sicherlich auch bei den anderen Festivals einstellt, zu denen das Stück jetzt tourt, ist das aber vielleicht keine so gute Idee. Das Publikum in der Kampnagelfabrik jubelte trotzdem – was bei dem furiosen Schluss nicht weiter verwundert. Den Rest muss man ja nicht unbedingt verstehen, nur durchstehen, damit man doch noch erkennen kann, was (LA)HORDE eigentlich zu bieten hat – eine in den Schlussminuten durchaus kreative und begeisternde Choreografie, vor allem aber fantastische Tänzer*innen.
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