„Lemniskata” von Lukas Avedaño

Ritual des neuen Mannes

„Lemniskata” von Lukas Avedaño feiert auf Kampnagel Europapremiere

Ein 14-köpfiges Ensemble, eine ritualhafte Atmosphäre und ein Spiel mit Erwartungen. Lukas Avendaño hat einen organischen, stimmungsvollen Abend geschaffen, der hoffentlich bei aller Schönheit auch beim Publikum mehr Fragen aufwirft als beantwortet.

Hamburg, 09/12/2022

Am Anfang rollen die Köpfe. 13 sind es, die sich langsam über die Vorbühne vor dem geschlossenen Vorhang in der großen K6 auf Kampnagel von rechts nach links rollen. Bald gibt das Licht die nackten männlichen Körper frei, die sich in einer langen Reihe wie eine Schlange immer übereinander rollen. Wer eben oben rollte, liegt jetzt unten. Dynamik gepaart mit meditativer Ruhe, das ist der rote Faden, der sich durch den 70 minütigen Abend „Lemniskata“ zieht. Erschaffen wurde er von Lukas Avedaño aus Mexiko, genauer aus Oaxaca und der dort heimischen Kultur der Zapoteken. Avedaño bezeichnet sich selbst als „Muxe”, was ein drittes Geschlecht innerhalb der zapotekischen Kultur ist. Dies war auch Thema des Solos „Requiem para un alcaraván“, das 2017 auf Kampnagel zu sehen war (und auch auf dem Tanzkongress 2022). Hatte Avedaño da noch auf einen wilden Mix aus Party, Melodram und Partizipation gesetzt, lässt er*sie es mit „Lemniskata” deutlich ruhiger angehen und stellt dabei die handelsübliche Darstellung von Männlichkeit auf den Prüfstand.

Was Lukas Avendaño dabei besonders gut gelingt, ist das Spiel mit der Erwartungshaltung des Publikums. Eine große Bühne und ein 14-köpfiges Ensemble - das verspricht doch eine große Show, richtig? - Falsch! Avendaño dehnt die Momente des übereinander Rollens zeitlich bis ins Äußerste - was dem eindrucksvollen Bild aber nichts an seiner Stärke nimmt - und bespielt die Tiefe des großen Bühnenraums erst einmal gar nicht. Fast eine halbe Stunde ist schon vergangen, als sich schleichend langsam der Vorhang öffnet und das zuvor groß angekündigte Bühnenbild offenbart: vier metergroße rechteckige Rahmen - an den Bühnenseiten, hinten und an der Decke -, an denen in unregelmäßigem Muster Seile gespannt sind. Aus der Netzstruktur leuchten einige kreisförmige Lichtröhren und bilden in ihrer Anordnung eine liegende Acht, das Zeichen der Unendlichkeit, auch „Lemniskate” genannt, auf die sich der Titel des Stücks bezieht. In Slow Motion - beinahe so langsam, dass man die schleichenden Bewegungen gar nicht wahrnimmt - nähern sich die Tänzer mit dem Blick zum Publikum der Netzstruktur an, bis einige beginnen, zu rhythmisch einsetzendem Trommeln empor zu klettern. Aber auch dieser Moment erstickt wieder unerwartet schnell und die Tänzer kehren bis kurz vor Schluss zurück in ihre eher meditative, beinahe sakral-ritualhafte Haltung. 

Doch unmerklich nimmt der Abend an Fahrt auf. Spätestens wenn vier der Tänzer zu Keuchen und Stöhnen (Soundkomposition: Javier López López und Diego Martínez Guillén) an Seilen auf und abgefahren werden und sich spiritualistische Ritualandeutungen mit der Bilderwelt von Dantes „Göttlicher Komödie” überlagern, weicht die intensive Ruhe einem Staunen. Denn all die ruhigen Momente waren doch immer ein Aufwärts auf einer Spirale mit unbekanntem Ende. Der nackte Mann in zumeist eher unmännlich konnotierten, unheroischen, unerwarteten Posen, der unerwartete Dinge tut. Er sperrt sich gegen die klassischen männlichen Narrative und könnte doch zugleich in seiner durchtrainierten Nackheit griechische Vasen zieren. Dieser spielhafte Synkretismus, der abendländische Kulturbilder lückenlos mit (vermutlich) mexikanisch-indigenen Tendenzen verschmilzt, aber sich zugleich deutlich im Universalismus des zeitgenössischen Tanzes verortet, macht den Reiz dieses Ansatzes aus. Das Finale mit übergroßen Masken führt in ein Fest zwischen Ritual und Folkloreshow mit hohem Energielevel, Live Musik von Flöte und Trommeln und gleichzeitig einem Bühnentanz, der (auch) an Folklore-Tourismus denken lässt. Die Ebenen verschwimmen und am Ende erscheint die Urmutter (Natalia Martínez Mejiía) zu all diesen Männern.

Genau hier offenbart sich aber auch die Kehrseite von Avendaños bewusster Setzung. Dem Anspruch des künstlerischen Teams, den in Mexiko männlich dominierten Narrativen mit einer weiblichen (oder andersgeschlechtlichen) Alternativerzählung entgegenzuwirken, kann „Lemniskata” auf rein personeller Ebene nicht entsprechen. Trotz der subtil integrierten Elemente der Gegenerzählung wird der Bühnenraum bis kurz vor Schluss vollständig von männlich gelesenen Körpern bespielt, was das Problem der männlichen Dominanz in diesem Fall natürlich eher verstärkt, als es zu brechen. Damit wirft die Inszenierung (unbewusst) Fragen auf, die weit über sie hinausragen, denn egal ob mit Gender- oder postkolonialer Brille, solche Diskurse lassen sich nur bedingt übersetzen und verlustfrei von einer Weltregion in die andere übertragen. Es bleiben heikle Themen und die Kunst kann hier nur Anregung geben, diese Differenzen produktiv zu ergründen.  

So bleibt trotz des nicht ganz unerheblichen Wermutstropfen ein ansonsten sehr organischer, stimmungsvoller Abend, der hoffentlich bei aller Schönheit auch beim Publikum mehr Fragen aufwirft als beantwortet.
 

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