„Kiss a Crow“ von Marco Goecke. Tanz: Giada Zanotti und Michelangelo Chelutti

„Kiss a Crow“ von Marco Goecke. Tanz: Giada Zanotti und Michelangelo Chelutti

Newcomer und Altmeister

Der Ballettabend „3 Generationen“ am Staatstheater Hannover

In der dritten Tanzpremiere dieser Spielzeit präsentiert Marco Goecke neben seiner eigenen Kreation „Kiss a Crow“ mit „Concertante“ ein Werk seines großen Vorbilds Hans van Manen sowie „Rise“ des aufstrebenden Jungchoreografen Emrecan Tanis.

Hannover, 24/02/2020

Tänzer*innen sind Nomaden, sie wechseln von Spielzeit zu Spielzeit, von Projekt zu Projekt ihren Standort und sind nirgendwo zu Hause, außer im Theater, im Ballettsaal. Wieviel mehr gilt dies für Choreograf*innen, die wiederum von Kompanie zu Kompanie wechseln, um ihre Stücke zu kreieren.

Marco Goecke hat dieses Leben 17 Jahre lang gelebt, vom Standort Stuttgart aus seine Werke deutschlandweit und auch international kreiert und einstudiert. 13 Jahre lang war er dabei Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts und auch die Bühnen von Mannheim, Osnabrück, Düsseldorf, Zürich, Berlin und viele mehr führten seine Werke auf - auf all diesen Reisen sein vielleicht treuester Begleiter: der Dackel Gustav. Der war immer dabei, auch bei den Proben.

Eine starke Verbindung hat Marco Goecke zu Holland, wo er 1995 nicht nur sein Studium in Den Haag abschloss, sondern auch jahrelang sowohl beim Scapino Ballett in Rotterdam als auch beim Nederlands Dans Theater in Den Haag Hauschoreograf war. Nun hat Marco Goecke seit dieser Spielzeit mit der Leitung des Balletts an der Staatsoper in Hannover einen festen Standort gefunden und kann zum ersten Mal eine eigene Kompanie aufbauen.

In der dritten Tanzpremiere dieser Spielzeit „3 Generationen“ präsentiert er neben seiner eigenen Kreation „Kiss a Crow“ mit „Concertante“ ein Werk seines großen Vorbilds Hans van Manen, Meister der Klassischen Moderne im Tanz, sowie „Rise“, eine Choreografie des aufstrebenden Jungchoreografen Emrecan Tanis aus Helsinki.

Hans van Manens Werk hat Bedeutung für viele Generationen von Choreograf*innen und Tänzer*innen. Mit seinem puristischen und trotzdem emotionalen Stil revolutionierte er die Ballettwelt, seine Werke werden heute weltweit von Kompanien ersten Ranges aufgeführt - welche Ehre für Goeckes neu gegründete Truppe, sein Ballett „Concertante“ zu Musik von Frank Martin zu tanzen! Eine Choreografie, die sich über ihre Musikalität dem Publikum mitteilt. Selten genug zu erleben heutzutage und dankbar aufgenommen. Zurückhaltend im Stil, prägnant in der Aussage, präsentiert er Soli, Gruppenformationen und einen modernen Grand Pas de deux, der durch seine verhaltene Aggression und gleichzeitige Anziehung zwischen Mann und Frau besticht. Herausragend hier: Ana-Paula Camargo und Maurus Gauthier.

Raffinierte Wendungen, überraschende Momente, vom Fokus gesteuerte Schrittfolgen und schlüssige Gruppenbilder bieten sich dem Publikum in abwechslungsreicher Folge. Dann folgt ein kaum merkliches, aber gut strukturiertes Crescendo bis zum überraschenden Schluss. Davon hätte man gerne noch mehr genossen. Von diesem Meister lässt sich was lernen, dank U wel, Hans van Manen!

Dankbar überreicht dann auch Marco Goecke selbst seinem Mentor, der (über 80-jährig) bei der Premiere anwesend ist und an die Einstudierung noch letzte Hand angelegt hat, den Premieren-Blumenstrauß, den dieser wiederum an die Kompanie weitergibt. Eine schöne Geste. Und Ermutigung, weiter daran zu arbeiten und zu wachsen, denn die Herausforderung für die Tänzer*innen, van Manens Stil mit letzter Eleganz zu bewältigen, war doch zu spüren.

Begonnen hatte der Abend mit „Rise“, einer Choreografie von Emrecan Tanis, die die Beziehung von Führer*innen und ihren Anhänger*innen, von Macht und Ohnmacht thematisiert. Ein sehr starkes Bild gleich zu Anfang: der Tänzer (auch hier: Maurus Gauthier) rennt und rennt durch ein flirrendes Hologramm von Türen und Gängen seiner Bestimmung entgegen. Zunächst als Anführer einer Gruppe, hochenergetisch hier die Leistung der gesamten Gruppe mit vielfältigen, eruptiven Bewegungen der Oberkörper bis zur physischen Erschöpfung. Dann findet Separierung statt: der Aufsteiger auf der einen Seite, die anderen abgestellt wie unter Flutlicht, mehr und mehr bis in eine Apathie hinein sich verlierend. Später sieht man einen Herrscher, der seine Menschen wie Marionetten funktionieren lässt und auf ihnen regelrecht spazieren geht. Dies alles ereignet sich zu einer interessanten Soundcollage, die allerdings mitunter zu theatralisch wirkt, wenn beispielsweise zu „Koyaanisqatsi“ von Philipp Glass das Aufsteigen und Fallen der Menschen zelebriert wird, oder beim dramatischen Niedergang des Machthabers, der mit Dampf - durch seine Mantelöffnungen entweichend - den Orchestergraben hinunterfährt. Vielleicht ein wenig zu viel Emphase für eine halbstündige Choreografie? Berührend allerdings war dann das Schlussduett der zwei „Überlebenden“, Giada Zanotti und Giovanni Visone, die das Stück in aller Zartheit und in Stille ausklingen lassen. Viel Applaus gab es für den Newcomer.

Als Letztes folgt die Uraufführung „Kiss a Crow“ von Marco Goecke zu Musik der Popikone Kate Bush. „Krähe, wunderliches Tier...“ schrieb einst Wilhelm Müller in seinem Gedicht, vertont von Franz Schubert in seiner „Winterreise“. Wunderlich kann dem Publikum auch werden, wenn es diese neueste Kreation von Marco Goecke erlebt: ein düsterer, emphatisch vorgetragener Tanz, in dem zu laut dröhnender Musik immer wieder Menschen aus dem Bühnennebel auftauchen und ihre energetischen, extremen Tänze präsentieren. Begleitet manchmal von eigenen Schreien werden da Abgründe gezeigt, die das Publikum nicht kalt lassen können. Man muss die „Farbe“ Schwarz mögen, wenn man Fan von Goeckes Tanzkunst werden will. Und Fans hat er, weiß Gott! Schon damals in Stuttgart, in München und jetzt in Hannover, sie machen sich mit lauten Bravorufen bemerkbar.

Inspiration finden kann der Choreograf laut seiner langjährigen Dramaturgin Esther Dreesen-Schaback überall, auch und gerade im Alltag, zum Beispiel bei den Spaziergängen mit seinem Dackel, die umherfliegenden Krähen vor Augen.

Doch wie wird daraus ein Ballett? Die Antwort gibt der Choreograf mit seinem sehr physischen, tabulosen, nervösen Tanzstil, ästhetisch angereichert mit spitzen Händen und Armen, pickenden Kopf- und Körperbewegungen, Händen geformt wie Krähenfüße, mit denen sich die Tänzer*innen umarmen. Ein mystischer Tanz, der seinen Protagonist*innen alles abverlangt. Tanztechnik blitzt dann und wann auf, bleibt aber im Hintergrund, persönliche Verausgabung, nervöse Emotionalität stehen im Vordergrund und die Tänzer*innen zerreissen sich regelrecht für Marco Goecke, um seinen Visionen körperlichen Ausdruck zu verleihen, allen voran der Solist Adam Russel-Jones. Die Choreografie übt eine düstere Faszination aus, sie lässt uns am Ende des Abends nicht los, gibt uns nicht wieder frei. Die Krallen der Krähen haben sich in den Bauch gegraben.

Schade nur, dass an diesem Abend nicht ein Mal die gesamte 27-köpfige Kompanie zusammen auf der Bühne zu erleben war. Ein vielversprechender und mit jubelndem Applaus bedachter Tanzabend, der noch Vieles für die Zukunft erahnen lässt und der aufzeigt, wie die Generationen im Tanz sich gegenseitig befruchten können.
 

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