„Hello Earth“ von Marco Goecke. Tanz: Maurus Gauthier

„Hello Earth“ von Marco Goecke. Tanz: Maurus Gauthier

Die Hoffnung bewahren

„Glaube – Liebe – Hoffnung“ am Staatstheater Hannover

Marco Goecke lädt für den dreiteiligen Abend zwei französische Choreografen als Gäste ein und zeigt eine ältere Arbeit von sich.

Hannover, 14/02/2023

Der mit viel Interesse erwartete Ballettabend am Staatstheater Hannover wurde von einem beispiellosen Ereignis überschattet, das drastische Folgen nach sich zieht: Dass der Ballettdirektor Marco Goecke die Tanzkritikerin der FAZ, Wiebke Hüster, wegen eines Verrisses mit dem Inhalt einer Hundekottüte im Gesicht beschmierte, ist ein schier unglaublicher Vorgang. Die allseitige Reaktion auf diesen Eklat zeigt, dass gerade ein Künstler mit so hohem Marktwert wie Marco Goecke hätte fähig sein sollen, mit Kritik umzugehen. Gewaltanwendung schließt vom künstlerischen Schaffen aus! Die Theaterleitung hat mit einer Suspendierung und Hausverbot reagiert. Dass die Thematik dieses Abends ausgerechnet Glaube, Liebe, Hoffnung war, wirkt im Nachhinein wie eine Ironie des Schicksals.

Doch nun zum Abend: Marco Goecke hatte für den dreiteiligen Abend zwei französische Choreografen als Gäste eingeladen. Der Korse Guillaume Hulot zeigt in „M I L K“ eine Auseinandersetzung mit der Mutter, bzw. dem mütterlichen Prinzip und liefert die einzige Uraufführung des Abends. Sehr energetisch und nicht immer ästhetisch (in vielen Sequenzen wird dem Publikum ihre Hinterseite gezeigt) tanzen die Tänzer*innen des Staatsballetts Szenen von Nähe und Distanz. In einem ständigen Auf und Ab von der Bühne, deren Gassen wie in einem imaginären Ballsaal rechts und links von weißen Vorhängen mit Schlitzen gesäumt sind, flanieren und tanzen sie im Wechsel. Die Choreografie wirkt wie ein zeitgenössischer Manierismus, der Eindruck wird verstärkt durch die rosé farbenen, an Barockunterwäsche erinnernden Kostüme: mal als Korsett mit Strümpfen, dann wieder mit langen Röcken unisono von Männern und Frauen getragen - ein Bild dafür, dass Weiblichkeit, Mütterlichkeit nicht an das biologische Geschlecht gebunden ist? Die Aussagen, was für Hulot den Choreografen, als auch für uns die Mutter bedeuten kann, wie sie uns geprägt und beeinflusst hat, bleiben vage: man sieht eine sich in Balzgehabe verausgabende Tänzerin - sensationell getanzt von Sandra Bourdais - oder einen kaum seine latente Wut (auf die Mutter?) zurückhalten könnenden Mann, der die durchaus ambivalente und hochexplosive Beziehung zur Musik des Songs „Mother“ der englischen Popband The Police darstellt, sowie in schneller Folge wechselnde Duette und Ensembles. Musikalisch wird die Choreografie getragen von zwei langsamen Sätzen aus Mozarts Klavierkonzerten Nr. 2 und 3, die er als 11-jähriger Junge geschrieben hat und eingerahmt von seinen Variationen über das Lied „Ah, vous dirais-je Maman“. Insgesamt eine engagierte, wenn auch nicht ganz verständliche Choreografie, die vom Publikum mit großem Beifall aufgenommen wurde.

Ganz anders die zweite Choreografie „Sway“ von Medhi Walerski, einem Kollegen von Marco Goecke beim NDT in Den Haag, wo auch im Jahr 2019 die Uraufführung von „Sway“ stattgefunden hat. Die Choreografie überzeugt vom ersten Moment an. Schon alleine, wie sich die siebenköpfige Gruppe nach dem Eröffnungsbild aufstellt, lässt höchste tänzerische Qualität vermuten. Dies bewahrheitet sich in den folgenden Szenen: nach einem wunderbaren Männersolo, kraftvoll und mit atmenden Armbewegungen (Louis Steinmetz), gefolgt von einem sensiblen Duett mit Marta Cerioli entspinnt sich Szene um Szene eine geheimnisvoll anmutende Choreografie im ständigen Wechsel zwischen Gruppe und Individuum. Dabei wird fließend und zugleich dynamisch getanzt, die Tänzer*innen fallen off-center und fangen den Fall auf mit einem dynamischen Lauf - von einer Sequenz zur nächsten. Der Choreograf ließ sich inspirieren von dem Gedicht „Hope is the thing with feathers...“ der amerikanischen Dichterin Emily Dickinson: „Hoffnung ist das gefiederte Ding, das in der Seele hockt und Lieder ohne Worte singt...“ Auch zusammen mit dem Bühnenbild, das an den Seiten zwei schräg gegeneinander fallende Wände zeigt, unter denen sich die Tänzer*innen in „Sway“ (was schwanken bedeutet) bewegen, entsteht ein Tanz von großer Magie und Sinnlichkeit. Manchmal kann eine einzige Inspiration ausreichen, um wirkliche Tanzkunst zu erschaffen. Emily Dickinsons Ode an die Hoffnung: der Vogel, der in uns singt und dessen Gesang nicht aufhört - zerbrechlich, flüchtig und unbeugsam zugleich - findet ihre tänzerische Übersetzung in einer - auch durch eine sehr ästhetische Lichtregie unterstützten - Choreografie, die stark und fragil zugleich ist und deshalb zutiefst berührt. Begeisterung ist die Folge!

Im dritten Teil des Abends präsentierte Marco Goecke seine - ebenfalls beim NDT im Jahr 2014 - uraufgeführte Choreografie „Hello Earth“. Der Choreograf beschreibt seine Herangehensweise als Blick von ganz weit oben auf unsere Erde und seine Bewohner. Wie aus dem Nichts tauchen die Tänzer*innen des Staatsballetts auf der Bühne auf und durchtanzen nach und nach ein riesiges Herz aus Popcorn - jedes Popkorn ein Symbol für den Urknall (im ganz Kleinen). Verschiedene Charakterzüge wie zum Beispiel Schüchternheit oder Selbstüberschätzung werden in Soli, Duetten und Gruppenszenen dargestellt. Mal grotesk, mal genussvoll tanzen sich die Protagonisten durch die Popcornfläche, wobei durch die herumfliegenden Teilchen interessante optische Effekte hervorgerufen werden.

Insgesamt hat der Tanz Marco Goeckes aber etwas Kaltes an sich. Man fragt sich: ist das Tanz? Oder ist es eher die permanente Verteidigung der eigenen Körpergrenzen auf zeitgenössische Art? Dieser Suspense der Unerreichbarkeit und der damit verbundene Versuch des Gegenübers die menschliche Mauer zu durchbrechen und Erfüllung zu erlangen, übt auf die Zuschauenden eine große Faszination aus. Und doch: ist es vielleicht auch ein Kampf des Choreografen gegen sein Publikum, das er am Ende gerne alleine lässt? Denn sein Tanz verstört, er irritiert durch andauernd flatternde Bewegungen der Hände und Arme den Sehsinn. Goeckes Arbeit funktioniert wie eine optische Überwältigung durch eine gestische und manchmal auch musikalische Reizüberflutung, der das Publikum unterlegen ist. Die pure Schnelligkeit der Bewegungen mit einigen tanztechnischen Elementen verknüpft, verlangt dem Zuschauer Respekt ab. Aber: wo ist der Gehalt, die Verbindung zum Thema? Ganz zu schweigen von choreografischem Umgang und Gestaltung der Tanzsequenzen im Raum? Allzu gerne würde man doch dieses gesamte, leistungsfähige Ensemble des Staatsballetts einmal zusammen auf der Bühne erleben!

Der allgemeinen Faszination, Goeckes Tanz zu erliegen, kann sich die Verfasserin dieser Zeilen nicht anschließen. Hochachtung gebührt dem gesamten Ensemble, das die verschiedenen choreografischen Handschriften mit Bravour meistert. Lang anhaltender Schlussapplaus belohnt dann auch die Tänzer*innen für einen mehr als anstrengenden Abend.                                                                                            

Verlieren wir nicht: den Glauben an eine weitere Existenz unserer Spezies Mensch auf dieser Erde, die Liebe und Respekt zwischen uns Menschen und die Hoffnung auf gute Tanzkunst!
 

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