Tanzkompakt und atmosphärisch dicht

Auftakt des Festivals Dance 2010

München, 24/10/2010

Eine wunderbare, eine zauberhaft kraftvolle Louise Lecavalier und danach Richard Siegals klangbrausende Multimedia-(Abtanz-)Party „co-pirates“ – Bettina Wagner-Bergelt hat in dieser von ihr zum letzten Mal kuratierten Dance-Biennale (bis 6. 11.) – trotz knappem Budget! – einen tanzkompakten und atmosphärisch dichten Auftakt hingelegt. „Ist, wird München eine Tanzstadt?“ war einst August Everdings fördernd-fordernde Frage. Mit diesmal fünf eingebundenen Münchner Choreografen/Gruppen könnte das, zumindest für die Dauer des Festivals, der Fall sein.

Das Phänomen Louise Lecavalier: je älter, je besser. Achtzehn Jahre war sie Muse und Star des Kanadiers Edouard Lock. Seine Kompanie Lalala Human Steps, in den frühen 80er Jahren Vorreiter des hochdynamischen New Dance, versetzte uns bei jedem Gastspiel hier in Trance. Und in Locks ausgetüftelt komplexer, dabei rasender Action-Choreografie die junge Lecavalier: eine zwischen den Männern akrobatisch hin- und hergeworfene, salto-fliegende postmoderne Sylphe. Nach Lock gastiert sie weltweit mit (Solo-)Programmen. Jetzt hat das britische Alround-Talent Nigel Charnock zu diversen Pop-Musiken die Duett-Folge „Children“ für sie maßgeschneidert. Wegen der „Kinder“ – die nur als zugespielten Stimmen präsent sind – scheint hier ein Eltern-Paar die Ehe retten zu wollen. Eine echte Reality-Show.

Louise Lecavalier und ihr blendender Partner Patrick Lamothe durchleben in jeder Körperfaser Stationen einer Paar-Krise: von kriegerischer Selbstbehauptung mit martialischen Stock-Exercicen über spielerische Entspannungsphasen und erneute Kampfansage bis zur versöhnend-zarten Umarmung. Es macht atemlos zu sehen, wie die einstige Tanz-Amazone Lecavalier zu einer hochsensiblen künstlerischen Gestalterin gereift ist. Aber die athletische Gestähltheit, die Robot-Präzision bei Hypergeschwindigkeit ihrer Lalala-Zeit ist immer noch in ihrem Körper gespeichert, hat sie grundlegend geprägt, wie sich in dem anschließenden zehnminütigen Lock-Ausschnitt aus seinem „Salt“ und „2“ mit dem exzellenten Elijah Brown zeigt.

Auf diese „Zeit-Prägung“ von Körper und Psyche will Kuratorin Wagner-Bergelt mit ihrem Motto „Time Codes“ pointiert verweisen. Dass jedes Erleben, jede Zeit im Körper, in ganzen Gesellschaften Spuren hinterlässt, ist uns eigentlich selbstverständliche Tatsache. Ohne die Emanzipation der Frau, ohne eine akzeptierte weibliche Sportlichkeit hätte Louise Lecavalier wohl kaum diesen virilen stuntman-artigen Tanzstil gewagt. Aber der plakative Begriff „Time Codes“ hilft doch, Blick und Denken zu fokussieren: auf Zeit als messbare Dimension, als rhythmisierter, phrasierter Ablauf der Choreografie. Und auf Zeit als Epoche mit ihren gesellschaftlichen Entwicklungen und Zusammenhängen.

Die heutige „globale Gesellschaft“ wird von Ex-Forsythe-Tänzer Richard Siegal verhandelt, auch wenn sich sein „co-pirates“ als harmloser Party-Event gibt. Als „Choreograf in Residenz des Muffatwerks“ hat Siegal diesen Abend direkt mit Münchnern erarbeitet. Und da kommt ein feierfröhliches Treffen zustande aus unter anderen Attac-Chor, Green City, ParkourOne, Piratenpartei, Profi-Tänzern und Laien. Und während die Muffathalle vom Disco-Gebrause brummt – Performance-Urgestein Alexeij Sagerer auf einer Empore mischt sein bekanntes Mikro-Röhren dazu –, während die Halbrund-Leinwand mit Bildern und SMS-Botschaften flimmert, treten d'Schwuhplattler gegen eine ungarische Volkstanzgruppe an, trällert eine Operndiva auf dem Tresen und fetzen Tänzer von der Elfenbeinküste pulsierenden "Isolation"-Tanz aufs Podium.

Das Publikum schwingt und wippt mit. Und irgendwie „klaut“ in dieser multikulturellen Fête jeder von jedem Bewegungselemente – sind letztlich alle im Saal: Piraten. Ernsthafter wird das „Piraten“-Thema in einem Symposium diskutiert unter der zentralen Frage „Wie geht eine digital geprägte Gesellschaft mit der Ressource Wissen um?“ Der zeitgenössische Tanz, anders als das erzählende, bebildernde Ballett, versteht sich immer auch als Reflexion über den aktuellen gesellschaftlichen Zustand.

Für nachwachsende Choreografen ist tradiertes Wissen jedoch essenziell. In Zusammenarbeit mit der Theaterwissenschaft der Universität München lässt der Italiener Simone Sandroni seine charismatischen jungen Tänzer den Physical Dance der 80er Jahre in seine Bausteine zerlegen und so verdeutlichen, wie elegant Bewegung zu Boden geht, sich dort verändert und wieder in die Senkrechte kommt. Choreografie-Lehre unterhaltsam anschaulich gemacht.

heute und morgen: Janez Jansa, Carl-Orff-Saal, 20 Uhr. Einführung: Gasteig, Raum 0131, 18 Uhr 30. Karten 089/ 54 81 81 81 
 

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