„The Urge“ von Ceren Oran

„The Urge“ von Ceren Oran

Tanzkritik 2.0

Ein frischer Blick auf das DANCE Festival München

Studierende der Musik- und Tanzwissenschaft der Paris Lodron Universität Salzburg besuchen das DANCE Festival München und teilen ihre Eindrücke.

München, 10/05/2021

Die Macht der Bilder. „You Should Have Seen Me Dancing Waltz“ und „Elephant“ von Rabih Mroué

Rabih Mroué zeichnet mit seinem Livestream Beitrag beim DANCE Festival München sehr beklemmende Stimmungsbilder, die zum Nachdenken anregen. Das erste Stück an diesem Abend „You Should Have Seen Me Dancing Waltz“ beginnt mit einer am Boden sitzenden Frau, die Zeitung liest. Die Bühne ist spärlich beleuchtet und die Zuschauenden vernehmen nur ein leises Geräusch, das durch das Umblättern der Seiten entsteht. Eine Stimme aus dem Off beginnt über die verstörenden Bilder eines Massakers zu sprechen und fragt, ob es legitim sei Fotos von Opfern abzudrucken.

Anschließend werden, von einer anderen Stimme, choreografische Anweisungen an die Tänzer*innen gegeben. Man hört Sätze wie: „Die Tanzenden bewegen sich in einer langen Diagonale, die den Kampf der russischen Bauernklasse darstellt. Sie rollen nach rechts, ziehen sich zusammen und kreisen wie eine Wolke Saringas über Aleppo. Dann marschieren sie wieder ein und tanzen ein sich wiederholendes Muster, das die Außenpolitik der USA repräsentiert.“ Bewegungen werden diktiert, ausgeführt und interpretiert. Wovon das Stück eigentlich handelt, beantworten die Tänzer*innen selbst. Sie bejahen alle hervorgebrachten Annahmen und Argumente. Das Ende findet dieser satirische Disput mit der Erkenntnis, es gehe um „nothing“.

Doch inhaltslos ist das Stück keineswegs. Mit sich im Raum bewegenden Körpern, theatralischen Szenen und seinen Texten übt Rabih Mroué Medienkritik auf verschiedenen audiovisuellen Ebenen.

Im zweiten Teil „Elephant“ werden Bleistiftskizzen von liegenden Körpern auf eine Leinwand projiziert. Meine erste Assoziation ist die von Mordopfern bei der Spurensicherung am Tatort. Die Tänzer*innen stellen die Posen der gezeichneten Silhouetten nach. Immer neue Bilder werden eingeblendet und die Anzahl der leblosen Körper vervielfacht sich, bis schließlich nur mehr ein wirrer schwarzer Haufen zu sehen ist, in dem ich einzelne Individuen zu erkennen glaube. Könnte es sich um die schemenhafte Darstellung eines Massakers handeln, von dem im ersten Stück die Rede war?

Die Interpretation bleibt jeder/m selbst überlassen. Rabih Mroué und die Tänzer*innen des Dance On Ensembles werfen Fragen auf, unternehmen aber nicht den Versuch, Antworten zu geben. Es werden stattdessen eindrucksvolle Stimmungsbilder gezeichnet, die das Publikum zum Reflektieren animieren.

Von Isabell Weigner


Zwischen Aufbäumen und Flehen. „Fitry“ von Serge Aimé Coulibaly

Ein Zucken, ein Schütteln, ein Wirbeln, ein stockender und dennoch nie vollends stillstehender Körper. So verkörpert Jean Robert Koudogbo Kiki eine innerliche Zerrissenheit, das Ankämpfen gegen das eigene Selbst, in seiner Choreografie „Fitry“.

Ein aufrechter Stand, die Hände weit vom Körper weg gestreckt in Richtung des Himmels, die Arme leicht hinter den Körper geführt, den Rücken in ein Hohlkreuz gebeugt, die Brust weit nach vorne geschoben. Mit dieser kraftvollen Haltung beginnt alles. Der Körper des Tänzers, der bereits mit Schweiß überflutet ist und das Zittern der Muskeln, lässt die Anstrengung dieser sich aufbauenden Haltung erahnen. Der Mund ist weit aufgerissen, der Blick beginnt sich allmählich in Richtung Himmel zu strecken, bis ein lautes Lachen ertönt und Kikis Oberkörper zusammensackt. Erneut beginnt er sich aufzubäumen und seine fast schon ehrfürchtige, flehende Haltung einzunehmen. Das Zittern des Körpers, der Schweiß, die verzerrte Mimik und das sich wiederholende Zusammenbrechen des Tänzers wirken verzweifelt. Dieser wirkungsvolle Auftakt verdichtet sich im weiteren Verlauf.

Kikis Arme beginnen unregelmäßig in sämtliche Richtungen des Raums zu wirbeln, der Oberkörper folgt. Die Bewegungen vollziehen sich abgehackt, aufeinanderfolgend, immer angeführt und initiiert von der nach vorne ausgebeulten Brust. Alles wirkt unkontrolliert und willkürlich. Kurze Pausen lassen neue Kraft schöpfen. Ob ein langsamer Versuch des Aufrichtens des Oberkörpers oder ein schnelles Zucken, die abstrakten Verrenkungen wirken wie ein Kampf um die Kontrolle des eigenen Körpers. Unkontrolliert, ferngesteuert, teilweise sogar besessen wirken die entkräftenden, krampfartigen Ausbrüche.

Ein Ankämpfen gegen das Selbst. Immer wieder wird dieser Kampf, unterbrochen durch flehende Haltungen. Während der gesamten Inszenierung richtet sich der Blick des Tänzers Richtung Decke, seine Arme und Hände bewegen sich ständig. Dieses Strecken gen Himmel, erweckt erneut den Eindruck der Unterwerfung. Einer fremden Kraft unterworfen, befindet sich Kiki in einem spannungsgeladenen Kampf zwischen willkürlich abstrakten und zappelnden Bewegungen sowie einem schmerzhaft kraftvollen Aufbau kämpferischer Haltungen und Zusammenbrüche.

Gegen Ende gelingt es dem kaum zur Ruhe kommenden Körper mehr Kontrolle zu erlangen. Aus den anfänglich unkontrollierten Bewegungen entwickelt er eine Roboter-ähnliche Bewegungsform, die im weiteren Verlauf zu einer runden, weniger eckigen Bewegungsabfolge führt. Die Arme bewegen sich nun wellenförmig, stocken nicht. Die Mimik wandelt sich von einem verzerrten Blick zu einem Lächeln mit weit aufgerissenen Augen. Dann Rennen im Kreis, ein Gefühl von Freiheit und Erlösung. Auf einem Hocker sitzend, sich zurücklehnend und erleichtert zur Decke schauend, kehrt Ruhe in Kikis abgekämpften Körper. Noch einmal nach vorne schreitend, beendet Kiki seinen Tanz im Stillen.

Ein Kampf mit und gegen sich Selbst, der durch das äußerlich Fremde beeinflusst wird und zu persönlicher Verzweiflung und Erschöpfung führt. Ein menschliches Empfinden, das Serge Aimé Coulibaly in seiner Choreografie mit- und nachfühlen lässt.

Von Emily Sturm


Realitätsnah. „Big Mouth“ des Choreografen-Duos Sheinfeld & Laor

„Big Mouth“. Eine tänzerische Inszenierung von Niv Sheinfeld und Oren Laor, die sich auf eine Gratwanderung zwischen Anerkennung, Gleichklang und Abstoßung begibt. So alltäglich und vielfältig wie die Bewegungen der Tänzer*innen scheint auch die Thematik der Inszenierung selbst zu sein.

Getanzt wird das Stück von Sheinfeld & Laor von einem Trio zweier Männer und einer Frau. Die zu Beginn gezeigte Marsch-ähnliche Formation der drei Tänzer*innen füllt den gesamten Aufführungsraum. Durch schnelles Laufen, fast schon Stolzieren, bewegt sich das Trio im Gleichschritt durch den Raum. Die Arme schwingen frei mit, der Schritt wird in unregelmäßigen Abständen durch ein leichtes Wippen belebt. Richtungswechsel erscheinen leicht und willkürlich durch schnelle Drehungen. Diese scheinbare Einheit bleibt jedoch nicht lange bestehen. Die Tänzerin fällt im Schnellschritt der beiden Tänzer immer wieder zurück. Auch mit schnellen, hektischen Laufbewegungen schafft sie es nicht Schritt zu halten. Als Konsequenz beginnt sie sich, den immerfort im Gleichschritt stolzierenden Männern, provokant in den Weg zu stellen. Durch beispielsweise schnelle Drehungen und eine aufrechte Haltung ihres gesamten Körpers, versucht sie den Weg für die anderen Tänzer zu versperren, jedoch ohne Erfolg.

In einer zweiten Sequenz stehen die beiden Tänzer inaktiv an den Seiten des Aufführungsraums, während die Tänzerin selbst mitten im Raum tanzt. Durch Sprünge mit weit ausgestreckten Gliedmaßen, Drehungen mit wirbelnden Armen, Rollen am Boden sowie schnelles Laufen und Wechseln ihrer räumlichen Position, nutzt sie die Vierdimensionalität ihrer Bewegungsmöglichkeiten. Ihre Bewegungen selbst wirken eher willkürlich, was den Eindruck entstehen lässt, dass sie ähnlich wie ein Kind versucht ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit oder gar Akzeptanz ihrer Mittänzer zu erlangen. Wie eine Aufnahmeprüfung, beobachtet durch die beiden Männer, scheint die Tänzerin durch alltägliche bzw. einfache, nicht außergewöhnlich akrobatische Bewegungen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Besonders hervorgehoben wird ihre Anstrengung an dieser Stelle durch ihre laute Atmung, die als einziges Geräusch zu vernehmen ist.

Einen bleiben Eindruck hinterlässt ebenfalls und vor allem die darauffolgende 'stillstehende Bewegung' der Tänzer*innen. Sie stehen formiert in einem Dreieck, die beiden Tänzer am hinteren Bühnenrand, die Tänzerin am vorderen. Hier 'tanzt' nur ihr Gesicht. Ihr Mund öffnet sich langsam so weit, wie es ihr möglich zu sein scheint. Die Augen und die Nase ziehen sich zusammen. Es scheint, als würde sie laut schreien, jedoch im Stillen. Zu hören ist von diesem kraftvollen Ausdruck nichts. Untermalt durch Chor-ähnliche Singstimmen wirkt dieser Moment dramatisch und in Bezug auf die Tänzerin sowie die vorangegangene tänzerische Darbietung, fast schon verzweifelt.

Im weiteren Verlauf ändert sich das bis hier hektisch wirkende Bewegungsbild der Inszenierung. Anstelle aufgewühlter, unruhiger Bewegungen der Tänzerin und kontrollierter Laufabfolgen der Tänzer, unterstützen diese nun sämtliche Bewegungsabfolgen ihrer Partnerin. Während dies zu Beginn darin besteht sie durch Schubsen, Schieben oder Drehen in verschiedene Richtungen zu weisen bzw. fast zu schleudern, wird nun mehr Körperkontakt zu ihren fremdbestimmten Bewegungen gesucht. Während diese nun beginnt einen Großteil ihres Tanzes am Boden auszuführen, durch Rollen oder Kugeln des eigenen Körpers, bieten ihre Kollegen ihr wiederholt eine 'Sitzmöglichkeit' an, indem sie sich hinknien. Auf den Fluss ihrer Bewegungen am Boden fokussiert, die durch langsame, sanfte Armbewegungen einen deutlichen Kontrast zu ihrem vorherigen eckigen Bewegungsmuster darstellt, beachtet die Tänzerin ihre Mittänzer kaum. Im weiteren Verlauf der Choreografie führt dies zu einer Reihe von Hebefiguren. Die Tänzerin wird in ihren Bewegungen so geführt, dass sie selbst keinen Kontakt mehr zum Boden hat. Die Hebefiguren bestehen aus langsamen, kraftvollen Bewegungen. Die drei tanzenden Körper verschlingen sich hier ineinander zu einer Einheit. Kraftvolle Positionen in denen die Tänzerin beispielsweise durch ein Stämmen beider männlichen Tänzer über deren eigene Körper gehoben wird, sorgen jedoch ebenfalls für den unkontrollierten Eindruck seitens der Eigenbewegung der Tänzerin.

Der zu Beginn angesprochene Anschein von einer Suche nach Zugehörigkeit scheint im Laufe der Choreografie scheinbar durch ein fremdbestimmt Sein in der Bewegung abgelöst zu werden bzw. scheinen sich diese Gegensätze in der Bewegung immer wieder aufzuwühlen.

Beendet wird die tänzerische Darbietung dadurch, dass die Tänzerin den Aufführungsraum durch die Hintertür verlässt. Dieses Aufbrechen des Modus „Aufführung“ stellt einen starken Wirklichkeitsbezug dar. Die Thematik der Spannung zwischen Selbstentfaltung, Zugehörigkeit und Fremdbestimmtheit wird hierdurch realitätsbezogen reflektiert. Das Gleiche lässt sich zusammenführend für die tänzerischen Bewegungen sagen. Diese erscheinen durch ihre Willkürlichkeit, Einfachheit, Einmaligkeit, aber auch Alltäglichkeit, sehr universell und öffnen den Zugang sowohl zu Tanz im Allgemeinen als auch zur inhaltlichen Thematisierung der Darbietung. 


Sei es ein feministischer Ansatz oder eine Kritik am gesellschaftlichen Modell Israels, der Herkunft der beiden Choreografen, die Bewegungen der Tänzer*innen sprechen auf universelle Weise.

Von Emily Sturm


Tanz 2.0. „Two for the Show – All for One and One for the Money“ von Richard Siegal und Tobias Staab

Überwältigend, interaktiv, simultan. Das sind die ersten Adjektive, die mir nach dem Streamen von Richard Siegals „Two for the Show – All for One and One for the Money“ einfallen. Zu Beginn des hybriden Events gibt der Choreograf selbst eine kurze Einführung, in der unter anderem die einzelnen Format-Funktionen erklärt werden. Man kann zwischen drei verschiedenen Streams hin- und her wechseln, am Chat teilnehmen, online gamen und zusätzliches Bonus-Material erwerben. Wer einfach nur ein bisschen Tanz ansehen möchte, ist hier falsch. Und doch ist gerade die außergewöhnliche tänzerische Leistung des Ballet of Difference für mich am fesselndsten.

In der sehr anspruchsvollen Choreografie (auf Kanal 1) wird an Virtuosität nicht gespart. Die stellenweise Spitzenschuhe tragenden Tänzerinnen zeigen klare klassische Linien, beeindrucken mit triple Pirouetten und einer enormen Flexibilität. Auch ein Moonwalk en pointe will erst einmal gelernt sein. Unabhängig von der Beschuhung alternieren die Tänzer*innen zwischen einer akademischen Exaktheit und einer organischen Dynamik, die Übergänge sind dabei oft fließend. Es wird mit Off-Balancen, Richtungswechseln und geometrischen Formationen gespielt.

Perfekt in Szene gesetzt werden die Tänzerkörper von Flora Mirandas futuristisch anmutenden Kostümen. Überhaupt habe ich den Eindruck, verstärkt durch die aus dem Boden ragenden Leuchtröhren und die elektronische Musik, ein Raumschiff sei gerade gelandet und hat jene tanzenden Wesen in dieses digitale Labyrinth transportiert.

Gegen Ende wird es dann so richtig spacy. Pulsierende Techno-Beats und bunte Farbprojektionen machen mich fast glauben, dass ich auf einer Rave-Party gelandet bin. Reizüberflutung pur, obwohl ich die meiste Zeit nur einem Stream folge und den Chat nach einer halben Stunde ausgeblendet habe.

Was auf den anderen Kanälen simultan passiert ist, habe ich nur zwischendurch und am Rande mitbekommen. So ein digitales Tanzerlebnis 2.0 kann ganz schön verwirrend sein – verwirrend schön!

Von Isabell Weigner


Auf der Suche nach dem gemeinsamen Rhythmus. Richard Siegals „Two for the show, All for One and One for The Money”

Dunkle, schwarze Wände im Hintergrund, ein heller Boden. Tänzer*innen wirbeln mit klassischen Pirouetten über die Bühne. Alles ist in eine im Halbkreis dynamisch angeordnete Lichtinstallation getaucht. Das neue 25-minütige Stück „Two for The Show, All for One and One for The Money“ des US-Amerikanischen Choreografen Richard Siegal, ist ein sogenanntes Polytopos, gemischt aus Sound, Licht, Farbe und der Live-Performance. Ein audiovisuelles Stück, das für die Tänzer*innen des Ballet of Difference choreografiert wurde.

Auf der zeitlichen Ebene in der Kunst, steht dieses Stück im Kontrast von elektronischen Sounds und klassischem Ballett. Die Ballerinas tanzen mit Spitzenschuhen, Ballett-Kostümen von Flora Miranda und mit einer Mischung der elektronischen Sounds von Lorenzo Bianchi-Hoesch und den Video-Games Sounds von Markus Popp und Lichtinstallation von Richard Siegal und Matthias Singer.

Licht und Farbe sind als tanzende Elemente vernetzt und reagieren auf die elektronischen Sounds und minimalistischen Änderungen. Die Musik- und Tanzsequenzen werden geloopt und wiederholt. Das Wechselspiel von Sound, Licht, Farbe und Körper der Ballerinas ist im absoluten Einklang mit der Musik. Auf der einen Seite sind die Tänzer*innen ganz unter sich und tanzen individuelle Bewegungsabläufe, auf der andere Seite tanzen sie in einen gemeinsamen Rhythmus, zielgerichtet und als Teil des Ganzen. Genauso war es bei den Besucher*innen. Zwar haben alle aufgrund der COVID-19-Situation online teilgenommen, aber sie konnten sich in verschiedenen Live-Streams bewegen und parallel mit den anderen Zuschauer*innen kommunizieren.

Beim Zuschauen hatte ich den Eindruck, Siegal suchte mit Technologie-Elementen ein choreografisches Material zu erstellen und mit multimedialen und sozialen Aspekten in eine neue Dimension vorzupreschen. Mein Eindruck war er versuchte mit seiner innovativen Choreografie, aus verschiedenen Perspektiven, die Betrachter*innen und Zuschauer*innen herauszufordern. Tatsächlich versetzt er mit seinem Stück das Publikum in einen Grenzraum, indem er sowohl künstlerische als auch soziale Aspekte des Stückes vermittelte.

Von Sahereh Astaneh
 

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