„ÔSS“ von Dançando com a Diferença & Marlene Monteiro Freitas

Irre!

International DANCE Festival München - Tag 2

Immer weiter treiben die Arbeiten genüsslich die Ränder des Tanzes vor sich her. Marlene Monteiro Freitas tut das mit grotesken Bildern. Und François Chaignaud lässt sich auf eine Weise „abschleppen“, dass einem das Blut in den Adern gefriert.

München, 24/05/2025

Es ist nicht direkt eins der schönsten Wörter: „Irre“ klingt schon mal geringschätzend. Ist aber viel öfter bewundernd gemeint. Und treffend. Anders als „irre“ kann man Marlene Monteiro Freitas‘ „ÔSS“ kaum nennen. Was sie gemeinsam mit den portugiesischen Performer*innen von Dançando com a Diferença in den Kammerspielen auf die Bühne gehauen hat, scheint komplett frei von Sinn zu sein. Zumindest für das Publikum. Neun Beteiligte verkörpern Unmengen „verrückter“ Charaktere, die einfach vor sich hin existieren. Weiße Kapitänsuniformen könnten ein Kreuzfahrtschiff andeuten. Weiße Kittel könnten auf ein Krankenhaus hinweisen. Schließlich findet irgendwann unter lautstarken Qualen eine Geburt statt. Was aber macht eine Torera auf einem Kreuzfahrtschiff? Oder in einem Krankenhaus? Und warum wird das lautstark mit einer Opernarie unterlegt? 

Eine kahlköpfige Figur hat auf der Oberseite des Kopfes ein zweites, aufgemaltes Gesicht, das durch eine entsprechende Neigung des Kopfes sichtbar wird und eine ganz neue Figur schafft. Den Effekt hat auch schon Akram Khan in seinem wunderbaren Solo für Kinder „Chotto Desh“ verwendet. Hier aber hat das Wesen am Hinterkopf sogar noch ein drittes Gesicht. Irre.

Eine Frau hockt wie weggepackt in einer Art Waschzuber. Eingewickelt in weiße Tücher starrt sie minutenlang reglos ins Publikum. Irgendwann schält sie sich aus ihrem Trog und legt die Uniform einer Polizistin an. Ja, absurd trifft es. Technisch verzerrte Stimmen, Schmatzgeräusche oder diabolisches Lachen machen das alles nicht weniger albtraumhaft. Alle gehen ihren Verrichtungen nach, weil es offenbar so sein muss. Aber ein Zweck zeigt sich nicht. Jede Szene bricht irgendwann ab, ohne zu einem erkennbaren Ende gefunden zu haben. Diese Figuren selbst scheinen aber in jedem Moment zu wissen, was sie tun. Alles ist selbstverständlich. 

Ist hier ein Arzt?

Zur Ruhe kommen sie schließlich im Wortsinn, legen sich wie zum Schlafen unter Decken. Die Polizistin singt ein schmalziges Liebeslied von dem einen Mann, „big and strong“, der eines Tages kommen und den sie lieben wird. Kaum, dass sie ihren sehnsuchtsvollen Gesang beendet hat, klingt sie ganz freundlich: „Guten Abend! Ist hier ein Arzt im Publikum? Wissen Sie, wie man ein Schwein kastriert?“ Ihre drastische Beschreibung genau jenes Vorgehens scheint wie der Höhepunkt des Absurden, aber lange nicht das Ende. Einen Toten exzessiv zu beweinen, gilt es auch noch. Der dann aufersteht. Und und und ... 

Das ließe sich ewig so weiter beschreiben, ohne dass man das irgendwie einordnen, einem Sinn zuordnen könnte. Die besten Ideen aber kommen einem ja bekanntlich auf dem Klo. Genau dort stellte nach der Vorstellung jemand die Frage: „Was hat das denn alles zu bedeuten?“ Die Antwort kam prompt: „Nichts.“ Klingt zwar irre, passt aber.

Deutlich stärker mit Bedeutung aufgeladen scheint hingegen der beschwörerische Ansatz von François Chaignaud. Im Utopia umgarnt er in „Radio Vinci Park“ unter dem schummrigen Licht einer einzelner Neonröhre einen knight in shining armour. Die Rüstung dieses Ritters ist aus Leder und sein Pferd aus Stahl. Der Kontrast zwischen dem schwarzen Motorrad und Chaignaud in einem weiten, hellen, fließenden Oberteil ist trotz des wenigen Lichts deutlich. Das Publikum steht staunend um dieses Duo herum, während am anderen Ende der riesigen Halle Marie-Pierre Brébant mit dem barocken Klang ihres Cembalos den Kontrast noch weiter ausbaut. Halsbrecherisch auf Heels lässt Chaignaud offenbar nichts unversucht, die Aufmerksamkeit oder gar Zuwendung des Subjekts der Begierde zu erlangen. Cyril Bourny aber sitzt die längste Zeit der Performance über ungerührt und reglos auf seinem Motorrad. Wenn er unvermittelt mit einer einfachen Bewegung die Position des Rückspiegels korrigiert und sofort wieder in Starre verfällt, hat das etwas irritierend Komisches. 

Kleine Albernheiten

Wie sich Chaignaud abmüht, mal in Anspielungen an den Flamenco, mal in augenscheinlich blödsinnig ungeduldigem Rumgefuchtel, das hat etwas Tragikomisches. Er geht in die Vollen, besteigt das Motorrad von vorn über den Lenker und macht schließlich auf dem Tank einen Kopfstand, während Bourny die Maschine allein mit den Füßen ausbalanciert. Ein solches Motorrad wiegt mehr als 200 Kilogramm. Dabei sollte man nicht unterschlagen, dass Chaignaud zwischendurch immer wieder auch noch live singt. In einer Liedzeile heißt es „I do not exist for me alone“. Dieses Begehren, das kann wohl auch weh tun. 

Das emotional Aufgeladene wird zwischendurch immer wieder durch kleine Albernheiten gebrochen, etwa, wenn Chaignaud mit langen künstlichen Fingernägeln auf dem Helm des Unerreichbaren rumklackert. 

Irgendwann hat der Balztanz erreicht, dass Leben in das angebetete Objekt kommt. Die Bestie ist entfesselt, und jetzt wird klar, warum das Publikum durch einen Zaun um die Fläche herum abgegrenzt steht. Was dieses PS-Monster macht, gehört hinter Gitter. Auf dem Gummiboden beschleunigt die Maschine, als würde sie am anderen Ende der Halle durch die geschlossene Tür krachen wollen und kommt nur wenige Zentimeter vor dem am Boden liegenden Chaignaud zum Stehen. Aber der hat es eben so gewollt. Er hängt sich hinten an die Maschine und lässt sich durch diese Arena über den Boden zerren, während er scheinbar unberührt einfach weitersingt. Wie Bourny hier die Maschine in der Kurve unter Kontrolle behält, ist schlichtweg irre. 

Der Motor heult ohrenbetäubend laut auf, und im nächsten Moment ist Bourny mitsamt Maschine durch die einzige Öffnung in der Umzäunung verschwunden. Chaignaud bleibt am Boden liegend allein zurück. Reglos, verlassen, leer. Und man fragt sich, ob es das wert war. „Watch out! You might get what you’re after“, sangen schon die Talking Heads.

Wenn das Festival in den nächsten Tagen so weitergeht, empfiehlt sich zwischendurch wohl mal der eine oder andere Schnaps.

 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern