Irre!
International DANCE Festival München - Tag 2
Marlene Monteiro Freitas' „Nôt“ und Clara Fureys „Unarmored“ bei Tanz im August
Mit Marlene Monteiro Freitas und Clara Furey kommen zwei sehr unterschiedliche Stimmen in der zweiten Runde von Tanz im August zur Sprache, die aber beide die Nicht-Normativität feiern - jede auf ihre ganz eigene Art.
Computerspiele: „Unarmored“ von Clara Furey als deutsche Erstaufführung
„Unarmored“, was man irgendwie mit panzerlos übersetzen kann, sucht nach ausufernder selbstbestimmter Erotik jenseits der Norm. Dazu nutzen Clara Furey und ihre drei Mittanzenden eine ganz eigene Körpersprache, die digitale Formen von Avataren, wie man sie etwa aus Computerspielen kennt, in die menschlichen Körper rücküberträgt. Entsprechend eckig und künstlich wirken da so manche Posen, vor allem wenn die vier sich in menschliche Interaktionen begeben, die ja eben Ausdruck dieser neuen Erotik sein sollen. Das Queere ist da weniger die Frage, welche Menschen mit welchen Menschen interagieren, sondern inwieweit diese Menschen nicht doch maschinendominiert sind und Mensch und digitale Maschine zu einer Einheit verschmelzen können.
Die vier Performenden sind da sicher keine Maschinen, aber ihre digitalen Aneignungsversuche bleiben nicht ohne Eindruck oder Folgen. Da stößt immer wieder das Hinterteil der einen Person an den Brustkorb der anderen oder jemand liegt relativ steif mit den Beinen auf dem Rücken der anderen und wird von diesen gezogen. Assoziationen zum Umgang mit Haustieren, die man streichelt, stellen sich ein, wenn sich eine der agierenden Person auf allen Vieren von einer weiteren berühren lässt und dabei in einem immerwährenden Schaukeln bleibt. Es gibt Zweier- und Dreier-Nummern, und auch das Zusehen kann offenbar Teil der neuen erotischen Formen sein. Bei anderen Konstellationen lässt sich an Sadomaso-Techniken denken. Über all dem liegt ein Hauch elektronischer Musik mit verzerrten Stimmen, ein leicht gewebter Teppich unterstützt durch ein permanent schummriges blaues Licht. Ansonsten ist die Bühne leer. Über die Zeit läuft dieses Spiel der Formen allerdings leer. Bei aller Finesse des Körperspiels treten die Vier dramaturgisch auf der Stelle, was sie mit NPCs (Nichtspielercharakteren) in Computerspielen gemein haben, die ja selbst nach gewaltsamen Tod an gleicher Stelle wiederauftauchen. Alles wirkt eher wie ein Showing denn wie ein durchkomponierter Abend.
Gegen Ende wechselt die Musik, und stampfende Beats bringen die vier in Rave-Wallungen, auch die wie kopiert aus einem Sims-Spiel. Das große Finale gehört dann aber doch wieder dem Menschen, wenn sich ein nackter Mann seltsam verschränkt und verkrampft im weißen Lichtkegel räkelt. Die Chimäre braucht eben doch beides: Mensch und Maschine.
Traumspiele: „Nôt“ von Marlene Monteiro Freitas
Es ist Geisterstunde im Haus der Berliner Festspiele, wenn das mit Avignon, Kampnagel und den Berliner Festspielen koproduzierte „Nôt“ die große Bühne entert. Marlene Monteiro Freitas, zusammen mit Florentine Holzinger designiertes Mitglied der neuen Volksbühne-Leitung unter Matthias Lilienthal, lädt in die Nacht – das bedeutet der Titel im kapverdischen – oder vielmehr in eine 70-minütige groteske Alptraumshow, die mitunter zirkensische Züge annimmt. Da gibt es große Gesichtsmasken, die an Chucky die Mörderpuppe mit der Frisur einer Mit-Dreißigerin erinnern, unendliche Nummern vom Abziehen von Betten oder das unvermittelte Auftauchen und Verschwinden eines Kardinals in Ornat auf der Hinterbühne, auf die man durch das weiße Stahlgestängebühnenbild von Yannick Fouassier und MMF blicken kann. Alle laufen abstrakt in 90 Grad-Winkeln über die Bühne. Hinzu kommt ein Licht von Yannick Fouassier , dass immer wieder aktiv falsche Foki setzt und Lichtstimmungen kurz aufscheinen lässt, die aber mit der Szene nichts zu tun haben. Dazu erklingt Igor Stravinskis Chorstück „Les Noces“, das eine weitere, nicht gerade beruhigende Ebene in dieses Tollhaus einfügt. Zudem noch drei hervorragende Trommler und Percussionisten, die mal strammen Beat geben und mal das ganze Feld in eine Samba-Party verwandeln. Die drei sind offenbar ansteckend, denn am Ende spielen gar sieben Trommelnde gleichzeitig.
Soviel Energieüberschuss war am Anfang nicht absehbar, vielmehr wirkte es zunächst wie eine Afterhour zu Florentine Holzingers „A year without summer“. Nach einer stummen Anmoderation greift ein Performer zu einem Nachttopf und scheißt pantomimisch rein. Da werden die Fäkalien verteilt auf die Köpfe der Zuschauenden, während er durchs Publikum stampft. Dass Monteiro Freitas explizit mit professionellen Clowns arbeitet, setzt dabei den Ton des Abends und bricht das Eis. Der Star des Abend ist aber Mariana Tembe, die beinamputiere Mozambiqaunerin, die das puppenhafte Verhalten der maskenbewehrten Körper auf die Spitze treibt, wenn sie scheinbar ewig zu simulierten Banjos mit zwei an ihren Kniestümpfen befestigten Fadenbeinattrappen spielt. Ansonsten auch hier fabelhafte Übergänge, alles dicht gewebt von einer Szene zur nächsten.
Doch all das reicht nicht, um so richtig abzuheben. Zu willkürlich wirken die kombinierten Elemente, zu aussagelos. In keinem Moment verdichtet sich das Geschehen, alles plätschert in braver Wildheit vor den Augen des Publikums ab und packt dabei nicht wirklich an. Wenn am Ende Nick Caves „The Mercy Seat“ einsetzt, dann ist der Zauber bald verflogen. So ist der Abend vielleicht doch näher an den Träumen als Monteiro Freitas lieb ist, wenn sich all das Erlebte beim Verlassen des Theaters in wohliges Wohlgefallen auflöst, genau wie Träume nach dem Aufwachen wieder in den Untiefen des Unterbewusstseins verschwinden.
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