Sommer, Tanz, Berlin

34. Internationales Festival Tanz im August - Eine Bilanz

Drei Wochen lang wurden in zehn verschiedenen Spielorten insgesamt 21 Produktionen aus 25 Ländern gezeigt. Die Retrospektive ONCE OVER TIME rückte dieses Jahr Christina Caprioli in den Fokus.

Berlin, 29/08/2022

Mit „Jurrung Ngan-ga“ von der australischen Compagnie Marrugeko startete Tanz im August 2022 intensiv und hochpolitisch. Auch wenn tänzerisch und dramaturgisch einiges auf der Strecke blieb, setzte die Arbeit die Messlatte hoch, was Power und Aussagekraft auf der Bühne anging. Dem Publikum gefiel es, es gab langanhaltenden Applaus an allen drei Abenden, auch wenn die Inszenierung (leider) zu den eher schlechter besuchten Veranstaltungen im Haus der Festspiele gehörte – für eine Festivaleröffnung besonders schade und der tollen Truppe von Marrugeko wurde das leider nicht gerecht.

Trotz alledem: Die Stimmung war gut, es wurde fleißig Weißwein getrunken, Brezeln gegessen und TiA-Beutel gekauft. Nach der letzten Ausgabe, pandemiebedingt mit kleineren Produktionen an kleineren Spielorten und wenig Möglichkeiten zum Austausch und Verweilen, war die Vorfreude und Hoffnung in diesem Jahr groß. Auch der Sommer in Berlin zeigte sich von seiner besten Seite. Mit dem Haus der Berliner Festspiele kam auch wieder ein weiterer großer Spielort dazu. Im letzten Jahr noch wegen Renovierungsarbeiten nicht verfügbar, öffnete es dieses Mal wie schon zum Theatertreffen seine Türen für das kulturwütige Publikum (eine schöne Mischung aus bürgerlich-charlottenburgisch und extravaganter Berliner Tanzszene). Dass die Umbauarbeiten noch nicht ganz abgeschlossen waren, machte das Foyer leider etwas ungemütlich und lud nicht unbedingt zum Verweilen ein. Auch wenn die Spanplattentüren durchaus ihren Charme hatten, so musste man seinen Wein draußen im Stehen schlürfen, wenn man nicht einen der zwei (Steh-)Tische in Bar-Nähe ergattert hatte.

Das zweite Wochenende lieferte dann einen Höhepunkt: La Veronal aus Barcelona mit „Sonoma“. Choreograf Marcos Morau verbindet darin surrealistisches Kino mit Tanz und Theater, angelehnt an Luis Buñuels Filme. „Sonoma“ entführt das Publikum mit voller Wucht in eine Traumwelt – surreal, mystisch, manchmal gar unheimlich und wunderschön. Die Ästhetik drängte den Tanz beinahe in den Hintergrund, so bild- und klanggewaltig ist der Abend, was unfair scheint bei der Leistung der Tänzerinnen, die auch stimmlich ablieferten. Bühnenbild, Licht und vor allem Kostüme waren hier ein Kunstwerk für sich. Als Zuschauer*in durfte man sich gar nicht erholen, eine Szene nach der anderen mit ohrenbetäubenden Trommelschlägen, Frauengesang, Kinderlachen, Wolfsgeheul oder Taubengurren. Auf einmal erschien dort eine kopflose Gestalt im Anzug, der Oberkörper viel zu lang, insgesamt zwei Meter groß, und wandelte über die Bühne. Aber so schnell sie erschien, war sie auch schon wieder verschwunden. Die Tänzerinnen waren mal alte Damen in Trachten, mal mit schwarzen Kapuzen, die auch das Gesicht bedeckten, oder Hüten mit riesigen Krempen, mal waren sie Kinder in ihrem blütenweißen Nachthemden und Blumenkränzen auf dem Kopf. Alles verschwimmt in dieser Inszenierung. Wie eine schwarz-weiße (Alb-)Traumsequenz wirkte der Abend im Nachhinein, der das Publikum mit Gänsehaut, dröhnenden Ohren und die ein oder anderen ganz benommen zurückließ.

Im Vergleich zu „Jurrung Ngan-ga“ und vielen anderen Produktionen in diesem Jahr, schien diese Arbeit gar nicht politisch, sondern rein auf Ästhetik und Schönheit abzuzielen – was durchaus eine gute Abwechslung ist. Denn das darf Tanz ja auch sein – einfach nur schön und begeisternd. Politisch waren auch die Produktionen von Oona Doherty und Bruno Beltrao: zwei große Namen beim diesjährigen Festival. Dementsprechend gut besucht waren beide Veranstaltungen. „New Creation“ bildete einen leisen Kontrast zu vielen anderen Arbeiten, ohne laute akustische Kulisse oder dröhnende Beats.

Die gab es ohne Ende bei Mette Ingvartsen. „The Dancing Public“ heißt das Solo, das sich mit dem Phänomen der Tanzwut, dem kollektiven und scheinbar ansteckenden Tanz beschäftigt. Deswegen durfte das Publikum auch gleich mitmachen. Der Festsaal in den Sophiensaelen wurde dafür in einen Technoclub verwandelt. Vermeintliche Sitzgelegenheiten waren nur drei Podeste, ansonsten musste man stehen bzw. tanzen, denn schon beim Eintreten wummerte es einem entgegen. Alle wirkten ein bisschen irritiert und gleichzeitig neugierig und wippten vorsichtig vor sich hin. Bis dann Mette Ingvartsen zwischen den Menschen auftauchte, auch ein bisschen tanzt und sich ihren Weg zu einem der Podeste bahnte. Ungefähr eine Stunde lang tanzte sie sich die Seele aus dem Leib, mal in der Menge, mal allein. Dazu erzählte und rappte (?) sie zunächst von der Pest. Es ging also um Pandemien, um ansteckende Krankheiten – das kennen wir ja inzwischen allzu gut – und schließlich um Tanz, um historische Ereignisse, bei denen eine Person, meistens eine Frau oder ein Kind, anfing zu tanzen, für verrückt erklärt wurde, und ihnen aber immer Menschen folgten und mit ihnen tanzten. Tanzen als Massenphänomen schon im Mittelalter. Sie selbst wurde dabei immer ekstatischer. Das mit der Ansteckung klappte in diesem Falle leider nicht so gut. Manche kriegte sie zwar zu ein paar wilden Bewegungen, wenn sie direkt vor ihnen stand, der Rest stampfte zum Techno aber die meiste Zeit nur leicht vor sich hin. Performativ gesehen war das alles mutig und Ingvartsens Ausdauer beeindruckend, tänzerisch aber recht unspektakulär. Wie gesagt, man hätte auch in einen Berliner Club gehen können. Rund die Hälfte der Zuschauer*innen war immerhin inspiriert genug, nach Ende der Performance noch zu bleiben und die Clubatmosphäre in den Sophiensaelen auszunutzen und zu tanzen, bis dann doch irgendwann die Musik ausgeschaltet und alle rausgeschmissen wurden.

Das komplette Gegenteil dazu kam von Jefta van Dinther mit seiner neuen Arbeit „Unearth“, die hier im Rahmen von Tanz im August ihre Weltpremiere hatte. Spielstätte war die St. Elisabeth-Kirche mit perfekten akustischen Möglichkeiten für diese Performance. In einem Theater hätte das ganze wohl nicht funktioniert. Einzige Geräuschquelle waren die Stimmen der zehn Tänzer*innen, die über weite Strecken der insgesamt vierstündigen Durational Performance a capella sangen und sich damit ihre eigene Klangkulisse schufen. Das allein war so schön und vor allem berührend, dass man als Zuschauer*in immer wieder die Augen schließen und dem einfach nur zuhören wollte. Das war auch in Ordnung, denn insgesamt ist es eine langsame, unaufgeregte Arbeit. Es wurde sich sehr vorsichtig und bedacht bewegt, mal einzeln, mal zu zweit und mal fanden sich alle zusammen. Neben der Stimme stand der Körper im Vordergrund. Es gab viele Wiederholungen, die beinahe einen hypnotischen Bann auswirkten. Die Tänzer*innen schienen wie in Trance, vielleicht waren sie das sogar, und manchmal scheinen sie so verletzlich und emotional, dass es schwerfiel, hinzuschauen. „Unearth“ sollte „Zugehörigkeit, Sinn und Sterblichkeit als gesellschaftliche und spirituelle Konstrukte“ herausstellen, und abstrakt gelang das auch. Nach etwa einer Stunde konnte man sich aber denken, wie der restliche Abend verlaufen würde und konnte gehen und vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen.

Nach drei Wochen Tanz in Berlin ist nun Schluss. Das Festival fand seinen Abschluss am Samstag mit „The Köln Concert“ von Trajal Harrell / Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble im HAU 1. Es war das letzte Festival unter der Leitung von Virve Sutinen. Gelungen ist es ihr allemal. Auch wenn wenige der größeren Produktionen ausverkauft waren, was in der aktuellen Situation vielleicht auch zu erwarten war, waren die Foyers und Vorplätze im Vergleich zum letzten Jahr wieder voll. Das diverse und hochkarätige Programm schien zu begeistern und zu bewegen. Produktionen wie die von Marrugeko, Martha Hincapié Charry und Oona Doherty rüttelten auf, wenn auch recht tief gestapelt und offensichtlich. Leiser und subtiler dagegen Bruno Beltrao und Jefta van Dinther, mit beinahe gegensätzlichen Körpersprachen. Und dass es bei allem auch einfach nur um Tanz und Ästhetik und Spaß gehen darf, zeigten Mette Ingvartsen und La Veronal. So kann es im nächsten Jahr gerne weitergehen, dann übernimmt Ricardo Carmona. Vielleicht noch mit mehr Möglichkeiten zum Verweilen und für den Austausch nach den Vorstellungen. Denn das gehört schließlich auch dazu. Gerade im Sommer in Berlin.

 

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