„Jurrung Ngan-ga“ von Marrugeku

Gewalt und Hoffnung

Zwischen Polizeigewalt und Utopie: Marrugeku bringen das Politische und Poetische zusammen, meistens zumindest.

„Jurrung Ngan-ga“ von Marrugeku aus Australien eröffnet in einer sehr politischen Deutschlandpremiere das Berliner Festival Tanz im August

Berlin, 06/08/2022

Ein politisch Lied, ein garstig Lied? Von wegen! Die australische Compagnie Marrugeku hat die diesjährige 34. Ausgabe von Tanz im August, die auch die letzte unter der künstlerischen Leitung von Virve Sutinen ist, mit einem furiosen politischen Stück als Deutschlandpremiere im Haus der Berliner Festspiele eröffnet, das zwar buchstäblich vom anderen Ende der Welt kommt, aber doch genug traurige Anknüpfungspunkte für die deutsche Gegenwart bildet.

Die zwei Tänzerinnen und sieben Tänzer haben sich für „Jurrung Ngan-ga“, was auf Yawuru, eine der Sprachen der australischen First Nations, soviel bedeutet wie „Klare Ansage“, mit Polizeigewalt in Australien besonders in Hinblick auf die Communities der indigenen Bevölkerungen aber auch gegen Migrant*innen, die auf speziellen Lagerinseln eingesperrt werden, auseinandergesetzt. Unter der Choreografie von Dalisa Pigram und der Regie von Rachael Sawin entstehen dabei ebenso bedrückende wie auch kraftvolle Bilder, die nicht die Hilflosigkeit sondern den Widerstand – gegen Gewalt, koloniale Praktiken und Rassismus – in den Vordergrund rücken.

Die Körper- und Bewegungssprache findet ihr Zentrum dabei in den Schultern. Ausgreifende Arme, die sich schlangenartig in den Raum bewegen und dem Körper die Richtung zuweisen, dazu elektronische Musik, zurückgenommen, aber mit klar definierten Schlagbeats, über die weitere Soundteppiche von Stimmen und Alltagsgeräuschen gelegt werden, dominieren den Abend. Im Hintergrund der Bühne hat Abdul-Rahman Abdullah eine Stahlwand montiert, die halb lichtdurchlässig ist, auf die gehämmert werden kann, und die immer wieder als Projektionsfläche für (Überwachungs-)Kamera-Bilder dient. Das Innere eines Gefängnisses oder Zellentraktes, während im Bühnenhaus zehn Kronleuchter darauf warten, heimeligen europäischen Kulturimport zu illuminieren – und am Ende am Boden liegen werden als Symbol für die Befreiung von den Ketten des Commonwealth.

Die Crew von Marrugeku verzichtet größtenteils auf das realistische Nachspielen der Gewalt, sie wird in großen und kleinen Szenen angedeutet und verschlüsselt und gerade so erlebbar und erfahrbar gemacht. Da ist etwa der Tänzer, der zunächst alleine im Spot auf der Bühne ist, während von allen Seiten der Rest des Ensembles ihn wie Zombies oder Gespenster einkreist mit irrem Kichern, Greifen oder auch nur Imitationen seiner Bewegungen. Am Ende liegt er widerstandslos und nackt bäuchlings an der Rampe, so dass Tat, Trauma und Trauma-Erinnerung wie ein unentwirrbares Knäuel übereinandergeworfen sind. Sicherlich eine der stärksten Repressionsszenen des Abends.

Doch sie werden auch konkreter: So werden die Namen von Opfern genannt, die in Polizeigewahrsam umgekommen sind oder sich in den Internierungslagern das Leben genommen haben, was in eine furiose Sprechgesangs-Self-Empowerment-Nummer führt. „This is Australia!“ Doch diese Konkretheit wirkt in der Gesamtschau schwächer als der die emotionale Ebene ansprechende Tanz. Auf jeden Fall, dieses utopische Potenzial, geboren aus dem Widerstand, dominiert den zweiten Teil des 80-minütigen Stücks, in dem dann auch die Symboliken des Kolonialismus auf den Tisch kommen, die sich, so die unausgesprochene These des Abends, in eben jenen repressiven Polizeitechniken niederschlagen. Das ist zwar stark, hat aber wegen seiner Überdeutlichkeit oft nicht die Intensität wie das höchst effektvoll komponierte Tanztheater, was das Publikum zu mehr herausfordert als braver Zustimmung gegen das offensichtliche Unrecht. Denn auch, wenn es hier mit den fallenden Kronleuchtern symbolisch überwunden wird, im Schlussbild klopfen die Menschen von außen an die Zäune. Zäune, die nicht nur auf australischen Eilanden stehen, sondern auch in Ceuta, Melilla oder in Ungarn oder Polen. Das Berliner Publikum antwortete mit Standing Ovations.

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