„Navy Blue“ von Oona Doherty. Tanz: Ensemble.

 „Navy Blue“ von Oona Doherty. Tanz: Ensemble.

Der Triumph der Gemeinschaft über die Einsamkeit

„Navy Blue“ von Oona Doherty eröffnet das diesjährige Sommerfestival auf Kampnagel

Diese Weltpremiere war mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht worden – sie konnte zwar nicht ganz halten, was diese versprachen, ist aber trotzdem ein beachtliches Stück mit hervorragenden Tänzer*innen.

Hamburg, 12/08/2022

Alles wie immer im August in Hamburg, wenn die Kampnagelfabrik zum alljährlichen Sommerfestival lädt: Man ist zurück aus Sylt oder der Toscana, aus Frankreich oder Schweden, das erste kulturelle Stelldichein nach der Sommerpause steht bevor. 250 Künstler*innen (mit den dazugehörigen Mitarbeiter*innen sind es sogar doppelt so viele) werden erwartet, mit 20-30.000 Gästen rechnen die Veranstalter. Das Hamburger Sommerfestival gilt für nicht wenige Produktionen als internationale Startrampe.

Sehen und gesehen werden lautet deshalb am Eröffnungstag die Devise beim bunt gemischten Publikum und viel mehr noch bei den illustren Ehrengästen, die man sonst nur selten in der Kampnagelfabrik sieht, die aber in ihren Stiftungen und Firmen für diese drei Wochen Kultur reichlich Geld locker gemacht haben. Trotz Corona gibt es wieder Umarmungen und Bussi-Bussi, das Essen aus den Buden im Kampnagel-Garten ist wie immer etwas dürftig, die Getränke sind teuer, und irgendwann, wenn man auffällig unauffällig dreinblickende Herren im dunklen Anzug mit Knopf im Ohr durch die Menge huschen sieht, weiß man: Der Erste Bürgermeister ist im Anmarsch. Dieses Jahr kam er anstelle des Kultursenators, der mit seiner Lässigkeit und seiner Eloquenz eigentlich noch besser in dieses Setting passt als der etwas steife und überkorrekte Herr Tschentscher. Der kam nach der Trauerfeier für Uwe Seeler direkt aus dem Volksparkstadion und dem strahlenden Sommerwetter entsprechend mit offenem Hemdkragen (aber nur der oberste Knopf natürlich). Erwartungsgemäß verlor er einige passende Worte („Hier wird die gesamte Breite der Kultur repräsentiert“, „Das Festival ist ein Signal der internationalen Verbundenheit in einer Zeit der internationalen Konfrontation“). Zum Dank hofierte Festivalleiter Andras Siebold den „Herrn Bürgermeister“, wenn er sich bei Tschentscher mit unterwürfigem Kotau für die „große Ruhe und Fachkompetenz“ bedankte, mit der dieser die Hansestadt „durch die Corona-Krise geführt“ habe ... Das dürften nicht nur viele Künstler*innen anders wahrgenommen haben.

Aber Siebold war schon immer ein Mann von ausgeprägtem Selbstbewusstsein und großer Worte, dem machte er auch dieses Jahr alle Ehre. Vollmundig avisierte er den Eröffnungs-Tanzabend als „eines der intensivsten Eröffnungsstücke je“, mehr noch: als „eines der größten Kunstwerke, die wir je auf die Bühne der K6 gestellt haben“. Tatsächlich eilte Oona Doherty ein Ruf wie Donnerhall voraus: als „rising star der Tanzwelt“ bezeichnete sie die „ZEIT“, und auch das „Hamburger Abendblatt“ titelte seinen Vorbericht über die junge Frau aus Nordirland mit „Das Riesentalent der Tanzwelt“. Schließlich war Doherty in den vergangenen Jahren mit Preisen überhäuft worden, 2021 hatte sie den „Silbernen Löwen“ der Tanzbiennale in Venedig erhalten.

Reichlich Vorschusslorbeeren also für die Choreografin und hohe Erwartungen an ihr neues Stück, für das sie eigens zwölf Tänzer*innen aus Paris, London und Dublin engagiert hatte. Nicht zu Unrecht, wie die erste Viertelstunde von „Navy Blue“ augenfällig beweist. Die Ensembles für die souverän agierende Tanzgruppe sind brillant gemacht, in einer sehr eigenen fließenden Bewegungssprache auf dem weißen, viereckigen Tanzteppich in der ansonsten bis auf die Seitenscheinwerfer kahlen K6 zu der (leider übersteuerten) wunderbaren Musik von Sergej Rachmaninows 2. Klavierkonzert. So emotional wie diese Komposition ist auch der Tanz der hervorragenden Tänzer*innen, die mit ihrer hohen Konzentration und Fokussiertheit in schlichten indigoblauen Anzügen das Publikum sofort in Bann schlagen. Sie kreiseln und kurven über die Bühne, oft als Einheit, aus der sich dann doch wieder einzelne lösen – Individualität und Gemeinschaft treffend charakterisiert. Raffiniert dazu die Lichtregie von John Gunning, der immer nur so viel preisgibt, wie es gerade nötig ist. Auch das macht die Magie dieser ersten 15 oder 20 Minuten aus.

Dann der Bruch: Mitten in den wunderbar elegisch-zarten zweiten Satz des Klavierkonzerts (leider erfährt man aus dem Programmzettel nicht, für welche Aufnahme sich Oona Doherty entschieden hat und leider ebenso wenig über die zwölf Tänzer*innen) platzt ein Störgeräusch (Schuss?), und der erste aus der Tänzergruppe fällt um. Und so geht es Schlag auf Schlag in unregelmäßigen Abständen, eine*r nach der/dem anderen geht zu Boden, wo sich sogleich neben dem Körper ein Fleck wie eine königsblaue Blutlache bildet. Immer verzweifelter werden die Gesten und Bewegungen der Übrigbleibenden, bis schließlich auch die letzte fällt. Stille. Leere. Schwarze Körper neben blauen Flecken, die langsam größer werden und beginnen ineinanderzufließen. Statt Rachmaninow jetzt elektronische Musik von Jamie xx, die genauso verstört wie das Geschehen auf der Bühne.

Erst als sich mit der Zeit aus den vielen kleinen Lachen ein großer blauer See gebildet hat, stehen die Menschen nach und nach wieder auf und treten an die Bühnenrampe, fixieren das Publikum und beginnen unisono zu sprechen ­­– nein, sie tun nur so, denn die rauchige, kratzig-raue Stimme, die aus den Lautsprechern kommt, ist die von Oona Doherty selbst – unverkennbar der irische Akzent. Sie spricht einen eigenen Text, den sie zusammen mit dem Schriftsteller Bush Moukarzel erarbeitet hat und der nun den gesamten zweiten Teil des Stückes beherrscht.

Mit Tanz ist da erstmal nicht mehr viel – radikaler könnte der Bruch kaum sein. Die Tänzer*innen zucken und zittern und zappeln zu dieser großen Klage über das Verlorensein, die Verzweiflung, nicht gesehen zu werden, in die Bedeutungslosigkeit zu fallen („I see myself falling into insignificance“). Das hat durchaus biografische Bezüge, denn Oona Dohertys Aufstieg zur viel beachteten und mit Preisen überschütteten Choreografin war erst einmal von vielen Rückschlägen und Enttäuschungen gepflastert. Einsamkeit und depressive Phasen sind ihr wohlbekannt. Ballett sei für sie als Tänzerin oft „ein trauriger Ort“ gewesen, wird sie im Programmzettel zitiert, auch wenn sie „die reine Form und die Athletik des Balletts immer lieben“ werde.

Und so ist diesem zweiten Teil eine große innere Wut eigen, eine verhaltene Aggression, die sich zum Schluss in einem fulminanten Solo eines Tänzers im Bühnenhintergrund Bahn bricht. Die Musik steigert sich dazu in orgelähnlich anschwellender Lautstärke, bis der Tänzer schließlich – völlig verausgabt – aufgibt, das Alleinsein, das Verlorensein in der Welt akzeptiert. Und genau in diesem Moment kommt eine Tänzerin aus dem Dunkel und umarmt ihn – und das tun nach und nach auch alle anderen, bis sich zu einem voluminösen, tröstlichen Schlussakkord ein großer Menschenhaufen gebildet hat – die Gemeinschaft, die jede Einsamkeit besiegt. Da ist Oona Doherty ein echter Gänsehautmoment gelungen.

„Es wird als klassische Arbeit beginnen, als altmodischer Tanz; und dann zerstören wir das, und etwas Neues kann geboren werden.“ Mit diesen Worten hatte Oona Doherty in einem Gespräch mit der taz am 10. August ihr neues Stück beschrieben. Altmodisch kann man Teil 1 allerdings wahrlich nicht nennen – und das, was da an Neuem geboren werden soll, zeigt sich jedenfalls nicht tänzerisch. Denn neu war es genauso wenig wie Teil 1 altmodisch war. Gerade angesichts des unbestreitbar großen Talents von Oona Doherty hätte man sich diesen zweiten Teil choreografisch-tänzerisch noch mehr durchgearbeitet gewünscht – was sich durchaus auch in der Reaktion des Publikums zeigte. Es applaudierte zwar anfangs mit großer Begeisterung, aber die Standing Ovations setzten sich nicht wirklich durch, und schon nach dreimal Verbeugen war alles vorbei – da hatte sich die Choreografin noch nicht mal auf der Bühne gezeigt. Schade.

 

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