„No. 60“ von Pichet Klunchun

Schneisen der Zerstörung

Lehrreiches aus Brasilien und Thailand beim Tanz im August in Berlin

Martha Hincapié Charry und Pichet Klunchun setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit Fragen vom Überleben der Traditionen auseinander.

Berlin, 22/08/2022

Martha Hincapié Charry brachte den Berliner*innen in „Amazonia 2040“ die (bekannten) Probleme der Amazonas-Region in einer bildreichen Lecture-Performance näher, und Pichet Klunchun entwickelte eine eigene Notation für den traditionellen Maskentanz Khon, wobei er die 59 Figuren des Korpus um die titelgebende „No. 60“ erweiterte und damit mal eben das ganze System kurzschloss.

Zunächst zu den brasilianischen Dschungeleinblicken von Martha Hincapié Charry. Das Stück auf der Hinterbühne des HAU 1 beginnt visuell eindrucksvoll. Hincapié Charry schleicht im Tarnanzug über die Bühne, während im Hintergrund riesengroße Traumbilder des brasilianischen Amazonas-Regenwaldes projiziert werden (Video: Liliana Merizalde & Sebastián Rosas). Die Soundkulisse von Brendan Dougherty und Samaquias Lorta changiert zwischen Dschungelgeräuschen und elektronischen Samples. Dann ergreift sie das Mikro und die Lehrstunde beginnt. Es geht ihr zunächst um die indigenen Völker, die vertrieben werden, abwandern, ihre Kultur verlieren etc. Dazu gibt es Bilder eines indigenen Volkes und Videoaufnahmen der Künstlerin, wie sie ein indigenes Ritual vollzieht, bei dem sie sich am Ufer des Amazonas in den Schlamm gräbt. Ein Aktivist im Video erläutert, dass die Gefahr bestehe, dass die indigenen Völker ihre Kultur verlieren, ihre Sprache, ihre Lebensräume. Er spricht spanisch, was man als Ironie lesen könnte, wenn so etwas vorgesehen wäre.

Tatsächlich aber verläuft sich diese Performance über weite Strecken auf diesem Niveau einer Auslandsreportage über ein auch in Berlin durchaus bekanntes Thema. Es folgt ein wortloses Geballere von Grafiken, Charts und Filme von brennenden Bäumen sowie Vorher-Nachher-Satellitenaufnahmen von Sojafarmen, bevor die Situation dann in einer Meditation mit Urwalderde aufgelöst wird. Die Performerin hat sich derweil aus ihrem Tarnfleck geschält und bewegt sich kurz und heftig zu volkstümlichen Rhythmen. Die Schreckensbilder von Müllbergen im Urwald laufen derweil weiter. Kein Applaus, kein Happy End. Aber auch kein Tanz und wenig Neues unter der Sonne. Das war inhaltlich einfach zu tief gestapelt und ist regelmäßig ein Problem, wenn Themen des Theaters des Anthropozäns verhandelt werden, wo der ästhetische Zugriff meist den Fakten unterliegt. Hier immerhin kann man dem Ganzen ein Höchstmaß an Authentizität zugestehen, ist Hincapié Charry doch selbst eine Nachkommin der Quimbaya, aber was ankommt ist Infotainment, auch wenn das Thema selbstredend richtig und wichtig ist. Aber Relevanz macht es noch nicht zu Kunst.

 

Um die Kunst hingegen geht es fast ausschließlich in „No. 60“, einer Deutschlandpremiere des thailändischen Choreografen Pichet Klunchun, das er zusammen mit der Tänzerin Kornkarn Rungsawang und dem Elektro-Musiker Zai Tang im HAU 2 zeigt. Er hat sich mit den 59 Figuren des Khon-Tanzes auseinandergesetzt, eine thailändische Spezialität und UNESCO-Weltkulturerbe, die die Geschichte eines Affens, eines Riesen, eines Mannes und einer Frau erzählt. Alles ist hier vorgeschrieben, und die Formen sind einst vom Himmel über den König an die Menschen gegeben worden und werden seitdem weitergegeben. Klunchun ist in dieser Tradition ausgebildet und hat nun die letzten Jahre unter anderem damit verbracht, das Alphabet des Khon neu zu buchstabieren, in dem er eigene Notationen entwickelte und diese nun auf der Bühne ausprobiert.

In einem absoluten Minimalismus und unterstützt durch eine Musik, die elektronische und traditionelle Klänge wir Glocken und Schellen neu kombiniert, zeigt er die Ergebnisse dieser Arbeit. Seine Notationen erscheinen zusammen mit den Grafiken der Figuren in Kreisen auf dem Boden und der Rückwand, und werden zugleich getanzt (Video: Jaturakorn Pinpech). Klunchun und Rungsawang legen so zunächst den unbeleckten Zuschauer*innen aus dem Westen Repertoire und Konstruktionsweise offen. Doch schon im nächsten Schritt verwandelt sich das Ganze in eine ausgefeilte Paarchoreografie, in der sie mal zusammen, mal allein und immer changierend zwischen Stilmitteln des zeitgenössischen Tanzes und den thailändischen Mustern der Khon. Das hat eine absolute Präzision und Strenge und macht Lust auf mehr. Doch jetzt kommen erst mal die 59 Figuren im Schnelldurchgang, die so schöne Namen tragen wie „Der weiße Affe tötet den Riesen“, „Elefant zerstört ein Gebäude“ oder „Das Pferd rennt um den Palast“. Auch hier sieht man die eher kryptischen Partituren und dazu die Bewegungen der beiden Tanzenden. Die entstehen – das ist im Grunde der Clou des Ansatzes – aus der Partitur und nicht den überbrachten Formen. Doch, zugegeben, ohne tiefere kulturelle Hintergründe steht man ebenso ratlos wie fasziniert davor, bis es dann zur No. 60 kommt. Und an diesem Punkt sprengt Klunchun seinen eigenen Abend voller Freude in die Luft.

Von der Bühnendecke senkt sich ein silberner Himmel mit Loch hinab, unter ihm brüllen Klunchun und Rungsawang mit Megaphonen die Titel von Figuren auf thailändisch herum. Prasselnder Krach, ganz weit weg von der Strenge Anfang. Emotionaler Overkill zu krachenden Beats und Sirenen. In Thailand ist das Stück bisher nicht gezeigt worden, denn eine politische Lesart dieses Ausbruchs, der an die Straßenproteste in Thailand anschließt, ist natürlich denkbar. So bleiben starke Eindrücke eines ebenso schönen wie widerspenstigen Abends.

Das große Ziel von Pichet Klunchum wäre übrigens, sein neues Khon-Alphabet mit einem westlichen Ensemble auszuprobieren. Vielleicht findet sich ja jemand, spannend wäre das Ergebnis auf jeden Fall.

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