Hinterm Vorhang
„Red Carpet“ von Hofesh Shechter in Paris
Wer etwas mit der Bühnen-Stahlkonstruktion der Antipolis im momentan in Sanierung befindlichen Staatstheater Kassel etwas anfangen konnte, fühlt sich im „Interim“ getauften Ausweichbau definitiv wohl. Zwar nicht ganz so verspielt, aber drei Wände des riesigen Saals bedecken die vielen Etagen alias „Adventureplätze“ immerhin. Und was von leidenschaftlichen Theatergängern bekrittelt wird, nämlich dass die als lästig geltenden Notausgang-Schilder im Dunkeln knallhell zu leuchten scheinen, ist ein alter Hut, der sogar so alt ist, dass man die Sache mit Vergnügen in Thomas Bernhards Stück „Der Theatermacher“ nachlesen kann.
Fest steht: Dieser Raum ist grandios. Er atmet Weite und kreative Offenheit. Nur für den neuen, zweiteiligen Abend von Tanz_Kassel bringt er, man möge es kaum glauben, eine Einschränkung: Eyal Dadons „Shuv“, das Anfang Februar im Stammhaus seine Uraufführung hatte, muss hier ohne Drehbühne auskommen. Und der Unterschied ist relevant. Nur geht er, welch Glück, nicht auf Kosten der Qualität.
Dieser äußerst differenziert ausbuchstabierte Totentanz lebt von seinen Zwischenräumen, den Leerstellen zwischen den sieben Tänzern. Das Publikum kann sich noch erinnert fühlen an die Drehscheibe, deren beständige Bewegung die Präsenz einer „dritten“ Energiequelle zu vermitteln schien. Das weiße Rund auf dem schwarzen Boden ist noch immer durch die niedrigen Schweinwerfer an dessen Rand begrenzt. Diesen mit Energie aufgeladenen Kreis verlassen die Tänzer*innen nur für Auf- und Abgänge. In ihm lebt etwas nicht Greifbares. Es scheint durch den Raum zu fliegen. Reglos fixieren die Tänzer*innen einen beweglichen Punkt. Durch sie hindurch geht diese Energie, lässt sie verharren und verursacht ein verzerrtes Zittern, dass an eine Bildstörung erinnert.
Vergebliche Geste
Immer wieder meint man, das Drehen des Bodens würde jeden Moment einsetzen, aber gerade das Wissen um das Ausbleiben dieser Bewegung macht „Shuv“ noch einmal ganz neu lesbar. Das Suchen der Tänzer*innen, die immer wieder weit ausgestreckten Arme mit Händen, die etwas empfangen wollen, es hat etwas Sehnsuchtsvolles. Es ist eine Geste, die jetzt noch vergeblicher wirkt. Die Leere zwischen ihnen ist stärker spürbar.
Fast will man meinen, in einigen Bewegungsansätzen bereits eine Ankündigung dessen lesen zu können, was im zweiten Stück mit „tHE bAD“ von Hofesh Shechter folgen wird, vorausgesetzt, man kennt das Stück (Uraufführung: 2015 in Manchester) noch nicht, wohl aber andere Arbeiten Shechters. Und dann kommt doch alles anders. Ganz anders. Keine hintergründige Emotionalität, keine rätselhafte Verzauberung, keine individuellen Charakterköpfe in ausgeklügelten Gemeinschaftskonstellationen. Die 12 Tänzer*innen des Ensembles stecken hier allesamt in goldenen Zentai (Bodysuit). Individualität spiegeln nur Kopf und Hände.
"querbeet", voller Brüche
Shechter schickt diese schimmernde Armada durch alles, was Brainstorming in einer Bierlaune innerhalb von zehn Minuten alles hergibt. Zumindest fühlt es sich so an. Das Ergebnis ist mit dem Label „querbeet“ haut dem Publikum eine Unzahl scheinbar arbiträrer Brüche um Ohren, Brüche in Musik, Rhythmus, Geschwindigkeit, Licht, Stimmung und dadurch Dramaturgie. Da wird wild abgehottet zu rockigen Beats, um im nächsten Moment völlig synchron eine Reihe lapidar wirkender, mechanisch-uninspirierter Bewegungsabfolgen durchzuexerzieren. Da ist viel künstliches Getue und Gemache. Da wird herumgepost und das Publikum zum Mitklatschen animiert. Aufgesetzt und überdreht. Anbiedernd und ausgestellt.
„tHE bAD“ stürmt immer wieder mit Hochgeschwindigkeit und sozusagen offenen Armen in Richtung Musikvideo-Ästhetik, bremst aber jedes Mal haarscharf kurz davor ab, um einen Haken zu schlagen. Klar, Shechter weiß, was er tut. Fast wirkt es, als wolle er hier zeigen, wie man ein Stück unbedingt nicht konzipieren sollte. Als eingeschworener Shechter-Fan sollte man sich von diesem Schock möglichst schnell erholen. Dann hat man die Möglichkeit, wenigstens noch die letzten Minuten dieses Gaudis zu genießen, der einfach gar nichts will und dabei lässig aus dem Handgelenk ein ausgezeichnetes Ensembles eben gerade nicht vorführt, sondern zu irrer Präzision in den Stilwechseln antreibt.
Thorsten Teubl, Direktor für Tanz_Kassel, hat ganz bewusst diese beiden Stücke kontrastierend kombiniert. Was er dabei ein Risiko nannte, hat die Begeisterung des Premierenpublikums vom Tisch gewischt. Im Januar folgt noch ein kleines Festival mit Israel-Schwerpunkt. Danach will Thorsten Teubl seinen alten Traum aufgreifen: irgendwann Choreografen von allen Kontinenten in Kassel präsentiert zu haben.
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