„Transmuted Symphony“ von Andrea Peña

Zeit ist bedeutungslos

Tanz_Kassel mit „Transmuted Symphony“ von Andrea Peña

Gleiten, schweben, winden, zucken: Die kolumbianische Choreografin macht Energie spürbar. Passt wie die Faust aufs Auge zum Motto der Tanzreihe „Let's talk about Trance“.

Kassel, 16/06/2025

Im Kellertheater des Fridericianums herrscht eine Atmosphäre wie im Fitness-Studio. Bereits beim Eintreten des Publikums in den kleinen Saal führt das Ensemble auf der Bühne rhythmisch angedeutete Kniebeugen aus. Alle hecheln im Takt: „Hah! – Hah! – Hah!“ Das Licht erlischt. Als es wieder hell wird, setzt laute, vorantreibende Minimal-Musik ein. Stoisch führt die Compagnie ihre gymnastischen Übungen fort.

Nach langer, langer Zeit beginnen leichte kollektive Variationen der Bewegungen; die Akteure gleiten, schweben, winden sich, zucken. Unaufhörlich impulsieren die Klänge die nun eher Tanzenden – irgendwann sogar zu freieren Körperaktionen im Raum. Trotz der andauernden Wiederholungen entfalten sich Musik und Tanz in kleinen, behutsamen Schritten. In dem intimen Raum ist die Nähe zu den Tänzerinnen und Tänzern sehr dicht, man kann sie spüren, riechen, mit ihnen verschmelzen.

Wie die zwölf Tanzenden gleiten auch wir Außenstehenden allmählich in einen tranceartigen Zustand: Zeit wird bedeutungslos. Schwerelosigkeit stellt sich ein. Musik und Bilder ziehen uns mit. Das Publikum atmet im Rhythmus der sanften aber unerbittlich vorantreibenden Musik: Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Gibt es noch ein Drinnen oder Draußen? Längst sind wir nicht nur visuell beteiligt. Eine Tänzerin steigt aus, setzt sich im Gang auf den Boden neben mich. Wiegt sich im Takt. Erhebt sich ein Stück. Ich bin verwirrt – ist sie aus ihrer Formation entwichen oder nur eine mutige Zuschauerin? Dann verschwindet sie wieder auf die Bühne – und ich kehre zurück in meinen Flow-Zustand.

Gefühle. Handlungsfetzen.

In weiteren Teilen der Aufführung lösen sich die kollektiven Aktionen nach und nach auf, manchmal entstehen Soli. Akrobatische Begegnungen im Raum, eigenartige Pas de deux entspinnen sich. Unvermindert treiben die Minimal-Klänge an – mittlerweile halbnackte, schwitzende, klebende Leiber verschränken sich zu Zweier- und Dreierfiguren. Anfassen. Schmusen. Abstoßen. Auch zwischen den Männern und zwischen den Frauen – im Sinne von „aufbrechenden Geschlechternormen“, wie die Choreografin meint. Plötzlich: Gefühle. Handlungsfetzen. Zuvor war alles Bewegung pur.

Bei wechselndem Licht formieren sich Gruppen unaufhörlich und in Zeitlupe zu kompakten lebenden Skulpturen. Man spürt Einsamkeit. Angst. Schmerz. Ausgeliefertsein. Traumartige Szenen tauchen auf, wir treiben mit dem Ensemble gemeinsam durch fremde Räume und andere Zeiten. Trotz der heftigen Emotionen verweilen wir alle im halbwachen, tranceartigen Zustand bis zum abrupten Schluss nach einer Stunde. Frenetischer Beifall. Standing Ovations aller 99 Zuschauenden.

„Ich lade das Publikum ein, Energie zu spüren, statt Erzählungen zu suchen – menschliche Nuancen in Echtzeit zu erleben“, erklärt die kolumbianische Choreografin. Das gelingt ihr in der Arbeit mit der Auswahl des Kasseler Ensembles überzeugend. Aber innovativ und überwältigend punkig, wie sie es selbst beschreibt, ist ihre Kreation nicht. Hervortretend sind jedoch die ständigen Wiederholungen mit leichten Variationen und später kräftigen narrativen Szenen. Die Spannung wächst unaufhörlich. Peña nutzt und verbindet souverän alle Formen des zeitgenössischen Tanzes, um mit der Compagnie und dem Publikum diesen Trancezustand zu erleben. So etwas ist im modernen Tanz selten zu erleben.

Draußen geht der Rave weiter, man könnte selber tanzen und in Trance geraten. Denn rund um das Fridericianum tobt am Premierenabend ein gigantisches Techno-Festival. Auf dem documenta-Platz erklingt Trance, eine sanfte und emotionalere Variante dieser elektronischen Musik.

 

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