„Der Tod und das Mädchen“ von Andonis Foniadakis, Tanz: James Potter und Terra Hunter Kell

Der böse Knochenmann

Zweiteiliger Abend „Der Tod und das Mädchen“ am Staatstheater Kassel

Andonis Foniadakis reißt das Publikum ohne Hemmungen in den Abgrund. Aber Eyal Dadon hilft uns zum Glück wieder auf die Beine. Was für ein erschütternder Abend!

Kassel, 02/02/2025

Der Tod wartet auf keine Einladung. Er fragt nicht, ob er willkommen ist. Deshalb wartet er immer still in den Leerstellen, den Lücken, dazwischen, wo man ihn nicht sehen kann. Diese Zwischenräume, in Eyal Dadons „Shuv“, auf der Drehbühne des Antipolis getauften Bühnenraums im Staatstheater Kassel, man kann sie spüren. Die Tänzer*innen stehen immer wieder am Rand der sich beständig langsam drehenden Bühne, weit voneinander entfernt. Sie blicken in diese Räume zwischen ihnen, hinter ihnen. 

Die Antipolis, ein innovativer Bühnenraum aus schlichten Baugerüsten, er bietet dem Publikum die zusätzliche Möglichkeit, direkt im sonst „klassischen“ Bühnenraum zu sitzen und aus neuen, ungewohnten Perspektiven heraus Inszenierungen zu erleben und gleichzeitig andere Zuschauer im Blick zu haben. 

Der aus Israel stammende Choreograf Eyal Dadon packt in diesen Raum einen Soundteppich, den er gemeinsam mit dem Staatsorchester und dem Sounddesigner Gil Yaacov Nemet gestaltet hat. Ganz vorsichtig schickt das Orchester unter der Leitung von Viktor Jugović die flirrenden Töne von John Adams „Shaker Loops“ auf die Bühne. Nemet umklammert das digital, indem er als Kontrast Trommelrhythmen und verfremdete Beduinengesänge vermischt. 

Gruppe ohne Gemeinschaft

In dieser Klammer tasten auf verhalten präzise Weise neun Tänzer*innen den von niedrigen Bodenleuchten begrenzten Raum nach dem nicht Greifbaren ab. Der Tod, es ist das Leitmotto für TANZ_KASSEL in dieser Spielzeit. In schlichten Kostümen in gedeckten, dunklen Farben (Anastasios Tassos Sofroniou) bilden sie eine introvertierte Gruppe, die aber keine Gemeinschaft ist. Sie reagieren immer wieder aufeinander, aber nicht vordergründig miteinander. Seit Jahren ist die Frage nach der Position des Individuums in einer Gemeinschaft das Dauerthema im Tanz, hier ist es das aber nicht. Das Zentrum ist ein anderes, ein Anderer. Der Fokus ist ein gemeinsamer, aber das Miteinander bleibt ein Abstraktes. 

Gleichzeitig vorsichtig und stark fällt das Bewegungsvokabular aus, kantig, immer wieder stocken die Tänzer*innen im freezing. Abruptes Stoppen, Suchen auf der Stelle. Dieses Verharren, es ist ein in sich Hineinlauschen. 

Erst, als die Trommelrhythmen diese permanente Suche ablösen und der Rhythmus den Takt vorgibt, erst dann weichen die Bewegungen auf, wie ein offenes Ausatmen in die Befreiung, eine Befreiung, die ohne Ende bleiben wird. Das Publikum zeigte sich darüber über die Maßen begeistert, war an jenem Punkt aber bereits jenseits von Gut und Böse. Denn zuvor, mit dem titelgebenden Stück „Der Tod und das Mädchen“, hatte der Grieche Andonis Foniadakis das Publikum an den emotionalen Abgrund getrieben. Und jedem einzeln noch den letzten Schubs über die Kante gegeben.  

Genuss der Ambivalenzen

Foniadakis hat das Spiel in all seinen Facetten verstanden, das Spiel zwischen dem Tod und dem Mädchen, zwischen dem Leben und dem Tod, zwischen einer Frau und einem Mann. Beliebig lässt sich das lesen. Dreifach besetzt er diese beiden Antipoden, drei Frauen und drei Männer schickt er auf die Drehbühne, die zwei gegenüberliegend positionierte Treppen mit leuchtenden Handläufen markieren, die ins Nichts laufen (Bühne: Sakis Birbilis). Das Staatsorchester nimmt die sechs Tänzer*innen vom ersten Moment an direkt an die Leine und treibt sie mit Franz Schuberts Komposition eine gute Stunde lang vor sich her, direkt mitten durch alles, was emotional und physisch überhaupt denkbar scheint. 

Foniadakis erlaubt sich dabei, frei von Dichotomien zu bleiben. Zu Beginn tragen alle bodenlange, ärmellose schwarze Kleider. Die Antipoden, sie sind da noch nicht sichtbar. Erst durch einen Kostümwechsel werden „die Fronten“ ausgemacht, die Frauen in schwarzen Bodies mit Ärmeln, die Männer in schwarzen Hosen mit transparenten Hemden. Damit eröffnet Foniadakis den Raum für Ambivalenzen. Und genau das ist es, womit ihm eine fast grenzenlose emotionale Komplexität gelingt. Ein Spiel, ein Kampf, ein Verführen. Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Egal, ob Spielraum oder Kampfarena: In der Mitte der Bühne liegt eine große rote Bouldermatte, präsent wie ein Altar, bereit für das Opfer. Diese weiche Oberfläche erlaubt Foniodakis ein zeitgenössisches Ballettvokabular, das sich leidenschaftlich in halsbrecherische Pirouetten und Salti traut und damit unter Schuberst Klängen eine Art beeindruckend brüchige Ästhetik zulässt. Dieses Epizentrum ist Demonstrationsort „maskuliner Kräfte“, wilde Stöße des Beckens sind nicht misszuverstehen. Hier kann man sich nicht nur fallenlassen. Hier fallen die Hemmungen. Und das gilt für beide Seiten.

Unbändiger Kampf

Die Energieentladungen sind immens. Immer wieder sinken die Tänzer*innen zu Boden, halb auf den Treppen liegend. Mal zieht sie ihn zurück in das endlos scheinende Miteinander, mal ist er der Unnachgiebige. Nichts ist eindeutig, kein Ziel, keine Absicht. Wer verführt wen? Immer wieder geben Schuberts Takte ganz unmittelbar klare Bewegungsmuster vor; die Emotionen knallen ohne Umweg direkt aus der Partitur in die Tänzer*innen. 

Bis schließlich alles in Rot erstrahlt, nackt. Ein letzter, unbändiger Kampf, mit einer gewaltigen Explosion am Ende. Ein Ende, das man nur zu leicht missverstehen kann. Das hat eine derart überwältigende Wucht, dass direkt mit dem Ende einige Zuschauer im Publikum hilflos in Tränen ausgebrochen sind.

Hier fegt ein äußerst beeindruckendes, reifes Ensemble über die Bühne, das bis in die feinsten Nuancen aufeinander eingespielt und miteinander abgestimmt ist. Davon muss man sich einfach erschüttern lassen.

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