„Graces“ von Silvia Gribaudi

Die Nackten und die Skater

Endspurt beim Tanztheater International in Hannover

Silvia Gribaudi und ihre knackigen Tänzer knöpfen sich das Publikum vor, während Ann Van den Broek in die aseptische Ekstase treibt und bei Moritz Ostruschnjak alles rückwärts läuft.

Hannover, 10/09/2022

„It is for you“, verkündet Choreografin Silvia Gribaudi in Hannovers Musikhochschule suggestiv via Mikro und präsentiert im Scheinwerferlicht den längsten ihrer langen Kerle, Typ Basketballer: langsam weitet sich der Lichtkegel, unter dem freundlichen Gesicht ein nackter Hals, nackte Brust, nackter Bauch … So geht es weiter barfuß von oben bis unten, aber die Hand vorm Gemächt. Dann springen die anderen drei ebenso nackt hinzu, drehen Pirouetten, wagen Grätschsprünge, breaken ein bisschen, jeder nach seiner Fähigkeit, und nie rutscht beim Handwechsel was aus dem Griff.

Gute Stimmung ist garantiert in Gribaudis Performance „Monjour“ beim Festival „Tanztheater international“. Unbefangen und selbstironisch spielen sie und ihre Darsteller mit Tänzer-Klischees und Erwartungshaltungen. Offensiv kontern sie unseren intellektuell verbrämten Voyeurismus, ziehen sich an und aus, die Clownsnase klebt zwischendurch überall mal am Körper und wird in eimerweiser Vervielfältigung zum Bällebad. Zuletzt aber ist der kräftig gebaute Schwergewichtler im kurzen Paillettenkleid der Schönste!  

Gribaudi weiß mit verschmitztem Lächeln, wie sie rankommt ans Publikum, bringt es zu gymnastischen Einlagen und zum Mitsingen. Aber diese charmante Art der Manipulation ist ambivalent, man schwankt zwischen komischer Verblüfftheit ob ihrer Einfälle sowie der Bereitwilligkeit des Publikums, ihr zu folgen, und wachsender Genervtheit, wenn die Jungs schon wieder mit demonstrativem Lächeln und Artistengestus Applaus einfordern und immer wieder erhalten, auch wenn sie gar nichts getan haben.

Die Zuschauer*innen werden da als Pawlowsche Hunde vorgeführt, und eigentlich ist es gar nicht komisch, wie widerstandslos sie sich manipulieren lassen. Wenn Gribaudi ihre Späße noch drastischer zuspitzte, käme vielleicht mancher noch ins Grübeln, ob es nicht nur die Diktatur der gnadenlos Unterhaltung einfordernden Zuschauer*innen gibt, die mit ihrem Lachen eine rein fröhliche Rezeption konfigurieren, sondern auch das Diktat der Performer, die sie durch Lächeln und Muskeln regieren.

Das war schon am Vorabend in Gribaudis „Graces“ zu erleben. Die rundliche Gribaudi im Gymnastikanzug und zwei knapp beshortete Tänzer drehen sich da wie Canovas drei Grazien im Kreis, zum Frühlingsstimmenwalzer wetteifern die drei Kerle in klassischen Sprüngen und Pirouetten, diesmal gibt es Blumenanstecker und immer wieder die Animation des Publikums zum Schnipsen oder Beatboxen. Unfasslich, wie die Crew in einer Fragerunde auch noch den unpassendsten Publikumsbeitrag zum Thema Grazie/Schönheit mit überraschter Aufmerksamkeit quittiert. Das ist schon Realsatire. Die Performenden verhindern so eben auch jede zielführende Diskussion, aber man ist sich nicht ganz sicher, ob sie einem genau diesen Mechanismus hier vorführen wollen oder ihm selbst erliegen. Alle, das macht der Abend heiter anschaulich, sind schön. Aber davon wird noch nicht alles gut.

Muss man bei Gribaudi das Doppelbödige oft selbst hervorwünschen, wird es in der merkwürdig aseptischen Versuchsanordnung von Ann Van den Broeks „Joy Enjoy Joy“ sofort greifbar. Die metallenen Liegen und Wagen für die Wechsel-T-Shirts (bloß nicht schwitzen!) erinnern an OP-Gerätschaft, die glimmernde Diskokugel liegt im Regal und gibt dieser Joy-Parade eine surreale Anmutung. Münder, die „Joy“ in die Live-Cam sagen, wirken lasziv. Langsam fährt die Kamera am nackten Oberkörper entlang. Verzerrt sehen wir auf der Großleinwand die Gesichter der auf dem Massagetisch Durchgewalkten. „Warten ist Spaß, Glück ist langweilig“ geben die Tanzenden ihrer sehr, sehr langsam gesteigerten Show mit, wissend, dass nach dem Höhepunkt Ernüchterung folgt.

Die Bewegungen zitieren Koksen und discohaft ausgestreckte Arme mit spitzem Zeigefinger, kurz ist die Umarmung, lang das Backgroundsängergetanze. Warten hat eben doch auch Längen. Besonders wenn Bewegungen nicht mehr innere Ausdruckswerte sind, sondern Mode, Zeitläufte, aktuelles Lebensgefühl aufrufen sollen. Das Versprechen etwa, das Leben sei eine einzige große Party, wie es einem joy-fixierte Medien von morgens bis abends um die Ohren schleudern.

Van den Broeks energische Crew zeigt uns das mühsame Vorglühen und den orgiastischen Höhepunkt mit der schnellen Verpuffung. „Are you ready for Joy?“, da springt ein Tänzer ohne Slip unterm Rock hoch, wirft sich die ganze Reihe nach vorne, crescendieren Musik, Publikumsapplaus und Kusshändchen zum Enjoy-Joy-Overkill, aber so gleißend schön und sauber, als wär’s ein Markenartikel. So reißt einen diese Performance mit empor und lässt zugleich frösteln. Gibt es das noch, das ehrliche, schmutzige, schweiß- wie lustvolle Leben, das große Menschengestalter wie Pina Bausch einst in ebensolchen Bewegungen auszudrücken wussten? Ann Van den Broek lässt uns diese Sehnsucht ex negativo wieder spüren.

Anderntags schwingt diese Sehnsucht auch irgendwo mit in der leeren, weißen, in ganzer Tiefe freigeräumten Orangerie von Herrenhausen, wenn Moritz Ostruschnjak sein „Terminal Beach“ aufschlägt. Die Tanzenden laufen viel rückwärts in diesem Stück, als wollten sie die Zeit zurückdrehen, sich an vergangene Ufer retten. Sie pantomimen als Cowboys mit den Händen an der fiktiven Gürtelschnalle, müssen dabei Sündenpredigt und Country-Songs ertragen, und die Kerle wellen ihre Six-Pack-Bäuche wie Pferderücken. Sie schwingen Fahnen oder reiten darauf, gleiten auf je einem Rollerblade zu Mönchsgesängen über die weite Fläche oder parieren in Ritterrüstungen das Staccato von Netflix, Tiktok und Tinder. Sind sie eben noch still rückwärtsgelaufen zu Verdis „Va Pensiero“, brechen Kanonendonner und Bombenhagel akustisch über sie herein, ein Mädchen schwingt die weiße Fahne, und einsam gleitet am Ende ein Inlineskater übers Feld.

Auch Ostruschnjaks Welt ist voller Zitate, es fehlen die echten Begegnungen der Figuren, ob sie nun mit Fahnen oder Rollerblades auftreten, gleichwohl liegt eine merkwürdige Poesie über den Bildern. Das Publikum reagierte jeweils begeistert.

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern