„Ich entdecke immer etwas Neues!“
Graham Smith im Interview über seine Produktion „Der Tod und das Mädchen“
Mit einem Energie-Feuerwerk ist am Mittwochabend die Tanzplattform Deutschland in Freiburg eröffnet worden. Vor 485 internationalen Fachbesucher*innen aus 44 Ländern verwandelten der Münchner Choreograf Moritz Ostruschnjak und seine sechs fantastischen Tänzer*innen das Große Haus des Theater Freiburg in einen undurchsichtigen, aber zutiefst immersiven Erlebnisraum. Cowboys, die ihre trainierten Bäuche in Körperwellen zur Schau stellen und zu Country-Musik einen Line Dance zum Besten geben, treffen in „Terminal Beach“ auf die Rudimente zweier Ritter, die am Ende erschöpft zu Boden sinken. Einmal rollen die Tänzer*innen – jeweils mit Inlineskates an einem Fuß – scheinbar schwerelos in feinen Linien in die Bühnentiefe. Vieles läuft an diesem Abend durch Rückwärtslaufen oder scheinbar rückwärtslaufende Bewegungen ab und entwickelt trotzdem oder gerade deshalb einen immensen Sog nach vorne.
Besonders eindrücklich ist die Szene, in der die Tänzer*innen zu bedrohlichen Klängen als Revolutionäre mit großen, in ihren Motiven verzerrten Fahnen auf die Bühne treten und in der das Publikum merkt, wie sehr sich der Kontext seit der Premiere von „Terminal Beach“ im Januar 2022 verschoben hat. Konnte die schwarze Fahne mit der Inschrift „Good Year“ damals noch auf die Hoffnung eines pandemiefreien Jahres gelesen werden, verschränken sich die Implikationen zwei Jahre später mit all den weiteren Krisen, die seither begonnen haben. Insbesondere die weiße Fahne, die zweimal geschwenkt wird, erinnert nur zu sehr an den brutalen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und das Leid der Zivilist*innen durch den Terrorangriff in Israel und die Militäroffensive in Gaza. Und so gewinnt Ostruschnjaks ohnehin schon vielschichtige Arbeit, in der die abrupten Zeichenwechsel und die Überhäufung mit unterschiedlichen Inhalten, ähnlich wie auf Social Media, keineswegs widersprüchlich, sondern dramaturgisch klug verschränkt sind, ganz unfreiwillig an noch mehr Tiefe.
30 Jahre Tanzplattform, diesmal im Stadttheater
Zum 30-jährigen Jubiläum der Tanzplattform Deutschland ist in diesem Jahr einiges anders: Zum ersten Mal wird sie von einem Stadttheater veranstaltet. Mit immensem Stolz zeigten sich während der Eröffnungsreden der Intendant des Theaters Freiburg, Peter Carp, Freiburgs Oberbürgermeister Martin Horn und Adriana Almeida Pees, künstlerische Leiterin der Sparte Tanz in Freiburg, dass es gelungen war, die Plattform nach Freiburg in den bisher kleinsten Veranstaltungsort zu holen. Und alle betonten sie die herausragenden Entwicklungen, die der Tanz in der Stadt und im Dreiländereck in den vergangenen Jahren gemacht hat.
Claudia Roth, Staatsministern für Kultur und Medien, schickte eine Ode an den Tanz in einer Videobotschaft. Insbesondere in politischen Krisenzeiten wie in den letzten Jahren sei er elementar. Er schaffe Räume durch Empathie und Verbindungen, weshalb sich Roth dafür einsetzen möchte, in Zeiten von Haushaltskürzungen die Tanzförderung auf hohem Niveau zu halten.
Adriana Pees betonte in ihrer Rede die Vielfalt und herausragende künstlerische Qualität der Produktionen. Aus 550 gesichteten Stücken wählte die Jury zehn aus, darunter mit „Schwanensee in Sneakers“ von Anna Till und Nora Otte auch eine Produktion für junges Publikum und mit „Mellowing“ vom Dance On Ensemble / Christos Papadopolous eine Arbeit von und mit Tänzer*innen über 40. Beide Teams wurden in diesem Jahr zum ersten Mal zur Tanzplattform eingeladen.
Kolonialgeschichte im Parforce-Ritt
Moritz Ostruschnjak hingegen ist hier sicherlich kein Unbekannter mehr. Nachdem 2020 für die Ausgabe in München seine Produktion „Unstern“ ausgewählt wurde, durfte er auch schon vor zwei Jahren die Plattform im Berliner Deutschen Theater mit seinem Solostück „Tanzanweisungen“ eröffnen. Und auch Ligia Lewis, die bereits vor der feierlichen Eröffnung „A Plot / A Scandal“ im Kleines Haus des Theater Freiburg zeigte, schaffte es in den vergangenen Jahren immer wieder in die Juryauswahl (2018 in Essen mit „Minor Matter“ und 2022 in Berlin mit „Still not Still“).
In „A Plot / A Scandal“, in dem die als Darstellerin Tanz mit dem FAUST-Preis ausgezeichnete Lewis weitgehend solo performt, dekonstruiert den vielschichtigen Begriff „plot“ und verwebt dessen Bedeutungszusammenhänge neu. Neben den wohl bekannteren Übersetzungen „Handlung“ und „Verschwörung“ heißt „plot“ nämlich auch „Land / Grundstück“. In einem wilden Wechselspiel aus vermeintlich harmloser Albernheit und aufkeimender Gewalt rast sie durch Bilder und Referenzen zur Kolonialgeschichte. Eine Extremkarikatur des Aufklärers John Locke in grauer Barockperücke trifft auf aufrichtige Erzählungen, wie die Zerstörung kultureller Traditionen in Haiti durch die Kolonialisten.
Zunächst irritiert die teilweise unaushaltbare Groteske und scheinbar ziellose Wirrheit dieses Abends. Mit jedem Element, das Lewis jedoch hinzufügt, entsteht letztlich jedoch ein eindrucksvolles Bild, besonders dann, wenn die Performer*innen die auf dem Boden liegenden Fliesen willkürlich entfernen, an sich reißen und die Inschrift „plot“ auf einer der Fliesen durch eine mit „rest“ ausgetauscht wird. Der Rest des brutal zerstörten Landes, der noch bleibt, oder das Bedürfnis, sich nach all der kolonialistischen Gewalt zu erholen? Das lässt Ligia Lewis offen und endet den Abend mit einem augenzwinkernden Verweis auf dessen fragmentarische Dramaturgie: ein von der Bühnendecke hängendes Fragezeichen wird erleuchtet.
Die Tanzplattform geht noch bis Sonntagabend und bietet neben den zehn ausgewählten Produktionen auch eine Vielzahl an Workshops, Austausch- und Diskussionsformaten an.
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