Hundperspektive im Überwachungsstaat

Manga-Tanz-Fiction „SOS“ - uraufgeführt von pvc in Freiburg

Freiburg, 27/03/2008

So gut wie zur Uraufführung von „SOS“ war die Tanz-Mannschaft der Freiburg-Heidelberger Tanzkooperative pvc in ihrer knapp zweijährigen Geschichte noch nicht aufgestellt. Beim Heimspiel der „Manga-Tanz-Fiction“ im Kleinen Haus des Theaters Freiburg ist das Publikum hellauf begeistert. Zu Recht. War bislang das politische und pädagogische Engagement wohlwollend angenommen worden, wollte die Kritik nicht verstummen: zu wenig Tanz, zu beliebig der Einsatz theatraler Mittel, zu thesenhaft der Erzählstil, zwar vereinzelt schöne Ideen, die als Versatzstücke aber kein poetisches Ganzes ergeben.

In „Save our souls“ verzichtet der Hauschoreograf Graham Smith auf einen Regisseur und große literarische Vorlagen. Stattdessen hat er sich auf den Spuren von Science-Fiction-Szenarien à la George Orwell (1984), Katastrophenfilmen, Computerspielen und Mangas für den Hilfeschrei „SOS“ eine bemerkenswerte Frauen-Crew ins Boot geholt. Mit Sinn für Ironie und Comics projiziert die Dramaturgin Inga Schonlau die Handlung in einen nicht allzu fernen Überwachungsstaat des Jahres 2016. Totaler Kontrolle ausgeliefert, agieren die Personen - ein weiblicher Android, drei nummerierte Subjekte, ein karrieregeiler Kollaborateur und zwei übergeordnete Lotsen - im Rahmen einer Versuchsanordnung, in der das natürliche Instinktverhalten und die menschliche Originalität erforscht werden sollen.

Verwahrlosung und Gewalt, Langeweile und Depression kennzeichnen das kalte Dasein in der urbanen Brache. Die Subjekte mit dem Präfix „Mimikri“ (Murielle Elizéon), „Balzac“ (Sebastian Rowinsky), „Tomtsuo“ (Tommy Noonan) und der „Android Su-Mi“ (Su-Mi Jang) lungern in einem Dystopia herum. Elektroakustischem Lärm, gegenseitigen Attacken und der Fernsteuerung durch die Kontrolleure ausgesetzt, suchen sie Schutz in Röhrensegmenten. Alles andere als gemütlich werden diese bruchstückhaften, transparenten Refugien von gleißendem Licht und beißendem Rauch durchströmt, saugen die Akteure auf oder spucken sie wie eine Rohrpost wieder aus.
Die Bühnenbildnerin Nadia Fistarol und der Lichtdesigner Andreas Grüter verorten die spätkapitalistische Gesellschaft in einem postfuturistischen Raum. Das Puppenspieler-Duo Vanessa Valk und Dorothee Metz reanimiert das seelenlose Biotop vereinsamter Körper nicht nur mit berührender Poesie des Marionettentheaters – Kleist und japanisches Puppenspiel lassen grüßen –, sie treten als Strippenzieher in der Rolle der Controller auf. Damit der Trumpfkarten nicht genug, darf auch Valks Hund Anton über die Bühne wandern.

Unglaublich, welch feines Näschen diese weiße Pudel-Terrier-Melange für seine Selbstinszenierung mitbringt. Diskret schlendert er durch die tanztheatrale Gemengelage - als wisse er um die Aufmerksamkeit die Tieren (und Kindern und Countertenören) auf der Bühne zukommt und den Akteuren die Show stiehlt. Wenn’s abgeht, die Tänzer rennen und raufen, wedelt der beste aller Nebendarsteller freudig erregt mit dem Schwanz. Mit der Distanz eines Feldforschers lässt er sich interessiert zwischen Publikum und Szene nieder, um das Paarungsverhalten der Protagonisten zu beäugen.

„Sei glücklich! In dir steckt Leidenschaft“ - Imperative in Sprechblasenart animieren die lethargischen Loser. Schwarze Kappen überm Gesicht, ihrer Individualität entledigt, werden sie quasi kopflos im Modus so genannter „Massenstimulationssequenzen“ in rasante Unisono-Quartette getrieben. Turbo-beschleunigte Drehimpulse münden in spektakulären Flug-, Fall- und Roll-Aktionen. Während der Multi- Instrumentalist und Kollaborateur Thomas Jeker, ganz in weiß und durch Plexiglas von der Umwelt abgeschirmt, nach Belieben verkabelt, schaltet und waltet, holen die Tänzer - Matrix-infiziert und Kampfsport-erprobt - alles aus sich raus. Erst als der Tod, und mit ihm schwarz vermummt die Figurenspielerinnen ins Spiel kommen, ist Ruhe. Wie der Mops in die Küche, schleicht Anton auf die Bühne und stiehlt der Leich ’nen Arm. Diese Leichenschändung ist einer jener tragikomischen Momente, bei dem sich blankes Entsetzen in verhohlenem Lachen entlädt und kichernd verebbt.

Stringent hält das Stück die am Manga orientierte, überpointierte Erzählweise durch, setzt theatrale Mittel dichter zu einander in Beziehung als in vergangenen Produktionen. Gelbe Karte lediglich für die halbherzigen Filmeinspielungen, deren Sinn sich nicht erschließt. Dem nachhaltigen Eindruck des Puppenspiels tun sie keinen Abbruch. Der Seele gleich, eben dem leblosen Leib entschlüpft, bezaubert die kleine Gliederpuppe mit einem Totentanz auf der weiblichen Körperlandschaft. Wenn schließlich der lebensgroße, Su-Mi nachmodellierte Kadaver dem Grabhügel entsteigt und sich über den Geliebten hermacht, verwischen die Grenzen von Mensch und Puppe, von Leben und Tod. Atemberaubend das Trio der beiden Puppenspielerinnen und ihrer ramponierten Figur – ein Arm und ein Bein fehlen der Auferstandenen, die mit Balzac alias Sebastian Rowinsky zu einem Duett verschmilzt, das Tanzgeschichte schreiben könnte.


www.theater.freiburg.de

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