„the second detail“ von William Forsythe. Tanz: Sarah Hees-Hochster

„the second detail“ von William Forsythe. Tanz: Sarah Hees-Hochster

Spielarten der Neoklassik

Fulminanter Dreiteiler beschließt die Saison beim Staatsballett Berlin

Nach „La Bayadère“, „La Sylphide“ und zwei Produktionen mit zeitgenössischem Tanz beschließt Johannes Öhman seine Spielzeit als Alleinintendant mit einem Dreiteiler großer Spannweite.

Berlin, 13/05/2019

Auch die fünfte und letzte Premiere dieser Saison beim Staatsballett Berlin hat, gemessen am finalen Jubel, den Nerv der Zuschauer getroffen. Nach Alexei Ratmanskys feinfühliger Rekonstruktion von „La Bayadère“, Frank Andersens bezaubernder „La Sylphide“ als Perle der Romantik und zwei Produktionen mit zeitgenössischem Tanz, wohlverteilt auf drei Spielstätten und dort rege besucht, beschließt Johannes Öhman in der Staatsoper seine Spielzeit als Alleinintendant mit einem Dreiteiler der großen Spannweite. Eine Linie prägt den Abend „Balanchine | Forsythe | Siegal“: die Fortentwicklung des klassischen Kanons über gut sieben Jahrzehnte.

Am Anfang steht der Neoklassiker George Balanchine, Absolvent der Kaiserlichen Ballettschule in Sankt Petersburg und noch in Kontakt mit Marius Petipa. Ihm, dem Großmeister der Hochklassik, huldigt er bis zum Tod 1983. Bereits 1947 schuf er für das American Ballet Theatre „Theme and Variations“ als Hommage, ein Divertissement zum letzten Satz aus Tschaikowskys Orchestersuite Nr. 3. Bei Balanchine wird daraus eine konzertante Lehrstunde vom einzelnen Schritt bis zum funkelnden Gruppengebilde. Was schon 2006 ans Staatsballett übergegangen war, erlebte nun seine Neueinstudierung mit dem Segen des Balanchine Trusts. Unter drei Lüstern startet der Exkurs mit zwei stehenden Diagonalen der Damengruppe, ehe die Gastsolistin Maria Kochetkova ihre Brillanz entfalten kann. Leichtfüßig verspielt fliegt der Tanz dahin, mit in sich gegliederten Ensembles und einem nächtlichen Pas de deux des harmonischen Solopaars, in dem Daniil Simkin reiche Partneraufgaben zufallen. Davor zeigte er sich mit einer Folge aus Lufttouren und Pirouetten auch als glänzender Techniker. Eine festliche Polonaise der zwölf Paare endet die souverän präsentierte Feier neoklassischen Tanzes.

Gut 40 Jahre später, 1991, begibt sich William Forsythe auf die Spuren seines Vorgängers mit der Courage, das Bewegungsmaterial einer Revision zu unterziehen. „The Second Detail“, für das National Ballet of Canada entwickelt, zehrt vom klassischen Kanon, erweitert ihn jedoch um tanztechnische Errungenschaften: Becken beulen aus, Rümpfe verschrauben sich, Köpfe schwingen verzögert nach, Körperteile agieren separat, die starre Achse biegt sich. All die Achsauslenkungen, rudernden Armformen, prismatisch wechselnden Formationen ereignen sich in einem hochragend grauen Raum, in grauen Trikots und zu den metallischen Schlägen von Thom Willems‘ elektronischer Klangcollage. Wie sehr die zahllosen kleinen, sehr flinken Bewegungsschnipsel scheinbar zufällig aufflackern mögen, sind sie doch Teil einer raffiniert erklügelten Struktur und wirken wie das Kräftemessen in einer Arena. Eine Frau im weißen Kleid facht den Energiesturm erneut an, bis ein Mann das stücklang an der Rampe stehende Schild „THE“ lässig umstößt.

Hat Balanchine für „The Second Detail“, später Teil eines ganzen Abends, je sieben Frauen und Männer eingesetzt, reduziert Richard Siegal für seinen Beitrag die Tänzerzahl. „Oval“ als Uraufführung des Abends stand unter besonderer Erwartung. Der vielfach preisgekrönte US-Amerikaner mit internationaler Choreografenkarriere hat sie nicht enttäuscht. Dass Forsythes Dekonstruktion des klassischen Schemas aufblitzt, nimmt angesichts von Siegals vieljähriger Zugehörigkeit zu jener Frankfurter Kompanie nicht wunder. Der Wahleuropäer bezieht in die Recherchen modernes Lichtdesign ein. Titelgebend projiziert ihm Matthias Singer über der Bühne einen LED-Kreis in den Raum, der perspektivisch als Oval schwebt und sich faszinierend verändert: zum dicken Band oder schmalen Strich wird, aufflackert oder streifig umfließt. Unter diesem matten Licht treiben die zwölf TänzerInnen einander zu fiependem Geräusch (Musik Alva Noto, als Carsten Nicolai in Chemnitz geboren) aus dem Lichtfleck. Spannung entlädt sich in kurzzeitigen, furios gefügten Begegnungen, die emotional im Ungefähren bleiben, technisch eher bodennah, während Forsythe noch nach Höhe strebte. Wenige in inkarnatfarbenen Glanztrikots rivalisieren mit den Vielen in Schwarz zwischen Abstoßen und Angezogensein. Dauerklang, Fauchen, Knistern beflügeln die akrobatischen Scharmützel, wie in den voranstehenden Beiträgen für die Frauen auf Spitze. Dass unabsehbar ist, was passiert, gehört zu den Vorzügen einer eingedunkelten Kreation, die mit dem Anfangsbild und einer frappierenden Abtastsequenz endet: hinreißend getanzt und durchaus Maßstab für die Zukunft eines künstlerisch gewachsenen Staatsballetts.

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