„Free Willy ● Hetwich“ von Esther Pérez und Nuria Fau. Tanz: Isidora Markovic, David Valls, Joel Distefano

„Free Willy ● Hetwich“ von Esther Pérez und Nuria Fau. Tanz: Isidora Markovic, David Valls, Joel Distefano

Fremdbestimmt von Energien und Ereignissen

Kurzstücke bei „Exquisite Corps“ am Staatstheater Nürnberg

Der „Junge Choreografen“-Abend bei Goyo Montero, seit elf Jahren Ballettdirektor am Staatstheater Nürnberg, findet nicht oft statt. Wenn es nun diesen besonderen Abend wieder gibt, so wie jetzt und insgesamt zum vierten Mal, ist er eine Wucht.

Nürnberg, 17/06/2019

„Exquisite Corps“ gestaltet sich schlicht anders: Nicht als Nummernabfolge, bei der man unweigerlich darauf schaut, wie weit ein Tänzer oder eine Tänzerin in ihrer choreografischen Entwicklung ist, sondern als komponiertes, in sich verbundenes Werk aus lauter Kurzstücken. Dadurch entsteht nicht nur eine Metaebene, ein Stück aus Stücken, sondern auch ein pointiertes, seismografisch zu nehmendes Bild jenen Bühnentanzes, wie ihn die noch Tanzenden und vielleicht späteren ChoreografInnen als Ausdruck ihrer selbst und ihrer Gegenwartserfahrung gestalten und ausfüllen.

Seine programmatische Vorlage hat der Abend, der in Nürnberg „Exquisite Corps“ heißt, in dem von den Surrealisten erfundenen Spiel, ein Papier so zu falten, dass immer nur eine kleine Fläche frei bleibt, die nacheinander von jeweils einem anderen Künstler bemalt wird. Klappt man das Papier auseinander, ist ein Bild entstanden, das einer allein so niemals hätte entstehen lassen können. 12 Tänzerinnen und Tänzer haben diesmal bei „Exquisite Corps“ mitgemacht, über die Hälfte der Nürnberger Kompanie, die sich im Laufe der letzten Jahre verändert hat: Monteros Tänzer sind Kerle mit Bärten und auch mal langen Haaren geworden. Die Frauen ähnlich divers – man sieht Undercut und kurzes Haar. Toughe Ladies, nahbar, hochpräsent, stark und weich gleichermaßen. Sie sind „global artists“ aus der ganzen Welt und teilen bei allen Unterschieden manchen medienkulturellen Einfluss.

Bestes Beispiel: Esther Peréz und Nuria Fau gemeinsam entwickeltes Schlussstück „Free Willy/Hetwich“, das so witzig und zugleich so krude zwischen Verhörszenen, wie man sie aus Netflix-Serien kennt, und Yogi-Events, wie sie überall aus dem Boden schießen, hin und her pendelt und sich schlussendlich zu einem Gefühls-Hybrid transformiert, dass man überhaupt nichts mehr versteht, was aber nicht schlimm ist, sondern sehr unterhaltsam.

Bewegungssprachlich dominiert in fast allen Choreografien eine sehr markante, zeitgenössische, viel aus dem zweiten Plié heraus gestoßenes oder fließendes, auch pfeilschnell über den Boden segelndes Bewegungsvokabular – mit zwei spannenden Ausnahmen: Daniel Roces steckt zu Beginn von „Exquisite Corps“ seine KollegInnen in grüne Ganzkörpertrikots und lässt sie neoklassisch auf Spitze auf eine Mozart-Komposition hin den Raum in Vibration versetzen. Inhaltlich orientierte er sich an den bereits von Jerome Robbins für „The Cage“ in den 1950er Jahren herangezogenen Insekten der Spezies Gottesanbeterinnen, die den männlichen Geschlechtspartner nach dem Akt töten. Roces hat seine Kurzchoreografie dabei so frisch und selbstbewusst in den Raum gesetzt, dass man froh ist, dass man sich in Nürnberg bei aller Hinwendung zu internationalem Repertoire und einer zeitgenössischen Formensprache des wichtigen Erbes dieses abstrakten, zeitlosen Stils, der nach 1945 entstanden war, bewusst ist. Der junge Choreograf bleibt aber an diesem Punkt nicht stehen, sondern öffnet dieses Erbe nonchalant jenem, das das damit verbundene Tanzverständnis bislang negiert: Esther Pérez tanzt zum Schluss selbstbewusst mit Babybauch – Robbins dürfte sich die Augen reiben ob so viel Realismus in Bezug auf das Bild der Frau im klassischen Tanz.

Die zweite Ausnahme bildet „Beat the Meat“ von Joel Distefano und Nobel Lakaev. Die beiden verlassen mit ihrer großartigen Kreation kurzum das Sprach- und Bedeutungsareal des Bühnentanzes und siedeln sich im Kosmos der zeitgenössischen Kunst und Performance an. Von dort aus üben sie Gesellschaftskritik auf der Höhe der Zeit – eigen, verrückt, postmodern, ironisch, respektlos und so bildstark, dass man das Werk glatt in eine große Kunsthalle mitnehmen könnte. Weder verzichten sie auf durch Nebelschwaden torkelnde Christusfiguren mit Holz auf der Schulter noch darauf, die Kompanie wie eine blökende Schafherde über die Bühne zu treiben. Davor versammelte sich das immer wieder auf dem Boden herum wimmelnde Ensemble, das sich in seinen weißen, bis über den Kopf reichenden Ganzkörpertrikots in blasse Mutanten verwandelt hat. Wie eine griechische Dorfgemeinschaft zum Kreistanz – nur hatte sie große Mühe, in den gemeinsamen Sirtaki-Schritt zu fallen. In kühnen Bild- und Lichtwechseln, die alle um das Thema Fleisch, Körper, Sex, Gehorsam oder dessen Gegenteil, den Rausch, drehen, steuerte das Werk schließlich auf sein Thema zu: Die Massenproduktion und Tötung von Fleisch erschien als fröhliche, rhythmisierte Videoprojektion. „Beat the Meat“ geriet zur großartigen Zurschaustellung aktueller, gesamtgesellschaftlicher Obszönitäten.

Klug mündete dieses sprachlos machende Werk in ein ruhiges, melancholisches Duett von Tal Eitan, ein nicht so aussagekräftiges Solo von Andy Fernández und schließlich eine klar strukturierte, abstrakte Choreografie von Sofie Vervaecke, in der Männlein wie Weiblein schwarze Pagenkopf-Perücken und schwarze, durchlöcherte kurze Trikots trugen. Überhaupt die Duette: Sie waren wohltuende Schauplätze für die Emotionen, die Gefühle, die Begegnung. Vor allem Laura Armendariz' Duett „Bonita Casualidad“ erzählte ergreifend schön und voller Humor von der starken Begegnung, die zwei Menschen in Liebe zueinander haben können, gerade nach Konflikten, Aufruhr und Streit.

Die Frau in der Liebe war, auch das eine narrative Auffälligkeit dieses besonderen Abends, die einzige Figur im Bühnengeschehen, an der sich, wenn man so will, die seltsame, medial und kriegsverseuchte Welt nicht vergriff, auch wenn sie manchmal zu oft zitterte und von einem Mann beruhigt werden musste. In den meisten anderen Stücken entwarfen die jungen ChoreografInnen immer wieder Menschenfiguren ohne Gesicht und Individualität. Sie waren, so die Erzählansätze durchweg, Energien und Ereignissen, auch Tötungen ausgesetzt, etwa in Rachelle Scotts hochkonzentriert getanztem, metaphorischem Aufruf „Without us“; immer wieder erschreckten sich die Menschen, wurden eben doch als fremdbestimmt gezeigt oder als weglaufend, ohne dass irgendein Ausweg aufgezeigt wurde – außer eben der stabil-instabilen Einheit des Paares. Dieser vorläufige, übergeordnete Befund machte nachdenklich.
 

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