Kontinuität
Goyo Montero bleibt bis 2028 Ballettdirektor in Nürnberg
Die Nacht nach der Premiere bleibt traumlos. Konsequent. Nachvollziehbar. Schließlich hat Goyo Montero dafür gesorgt, dass Kopf und Geist eineinhalb Stunden lang mit Traumbildern angereichert wurden. Mit ästhetischen, fließenden, in aus dem Stand erstaunlich hoch gesprungenen, himmelhochjauchzenden. Mit selten erschreckenden und nur in Ausnahmefällen stakkatohaften, eingefrorenen, die das ausverkaufte Staatstheater Nürnberg beziehungsweise die darin Sitzenden kurz aus ihrem traumhaften Zustand aufrütteln.
„Goldberg“ heißt das neue Tanzstück. Die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach (1741) – von der Staatsphilharmonie Nürnberg gespielt – werden vor einem auf transparente Kunststoffbahnen reduzierten Bühnenbild mit zeitgenössischer, aber auch klassischer Ballettkunst verwoben, von Ballettkomponist Owen Belton aufgegriffen und sanft mit elektronischen Klängen weiterentwickelt.
Die Zuschauer*innen sehen zunächst nur eine gallertartig wabernde transparente Masse – von der Decke bis zum Bühnenboden in Kunststoffbahnen reichend. Flüssig? Fest? Greifbar? Dahinter werden wellenartige Bewegungen von Körpern wahrnehmbar. Elektronische Impulse wirken wie Stromstöße auf die heraustretenden Individuen. Der aus vielen einzelnen Armen, Beinen, Köpfen, Körperteilen bestehende Tanz-Körper löst sich in Einzelteile auf, die Tänzer*innen tanzen aus der Reihe. Und da ist sie plötzlich: die sirrende, perlende Heiterkeit eines Johann Sebastian Bach. Das Auge wird quasi gestreichelt von sich emotional entblößenden, sich hingebenden und in größte Dehnbarkeit und Sprunghaftigkeit fließende Tänzer*innen.
Dass der spanische Kostümbildner Salvador Mateu Andujar sich mit schlichten, in einer Sequenz als höchste Extravaganz in eine Art dunkel-schillernde Reptilienhaut mündende Haut begnügt hat, kommt dem Stück zu Gute. Klar nachvollziehbar: der Bezug zur analogen Schwarz-Weiß-Fotografie, das Spiel mit der Negativ-Entwicklung in einer Dunkelkammer. Dem zuträglich ist die raffinierte Lichtchoreografie von Martin Gebhardt, die die Körper zu Schattenobjekten, zu in roter Lava und künstlichem Lila Badenden macht, die die Feinheiten eines hochkarätigen Tanzensembles bis in die letzte Dehnung optisch nachvollziehbar macht. Es ist wie Eis, das auf dem Gaumen zergeht. Vor allem auch der Wechsel zwischen lieblichem Bach-Pas-de-Deux und teils auch stakkatoartigen, roboterhaften Bewegungen, die optische Veränderung von Solist*innen-Darbietungen zu einem homogenen und doch eindeutig aus Individuen bestehenden, zu einem Körper verschmelzenden Gruppe machen den Reiz des Stücks aus.
Ganz augenscheinlich kennt die Schaffenslust, die innovative Kreativität des Nürnberger Ballettdirektors keine Grenzen. Diese kann er indessen nur mit einem euphorischen Ensemble von mindestens 24 (mit Gast 25) hochkarätigen Tänzerinnen und Tänzern überwinden und immer wieder neu ausloten, wie nun im neuen Tanzstück „Goldberg“ – mit den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach als Quelle und den neu hinzukommenden und die Variationen spiegelnden, elektronischen „Fließgewässern“ von Owen Belton. Dessen Variationen wiederum entstehen auf der Grundlage der Bach-Interpretationen des kanadischen Pianisten Glenn Gould – auch das für ihn typische Summen des Weltstars wird von Belton selbst übernommen und erzeugt im Auditorium ein wohltuendes Vibrieren, dem Schnurren einer Katze nicht unähnlich. Als kleiner Schmunzeleffekt kommen noch – in diesem Fall nicht störend – leise Schnarchgeräusche hinzu.
Das Geheimnis des Spaniers Montero liegt wohl darin, dass er es schafft, die individuelle Ausdruckskraft eines jeden Ensemblemitglieds zu „düngen“ und damit zum Erblühen zu bringen. Und trotzdem jedes Individuum sich der Gruppe hinwendend mit dieser verschmelzen zu lassen; in manchen Szenen wird daraus ein einziger, wabernder, sich wälzender, hüpfender Körper.
Im Interview mit der Tanzkritikerin Dorion Weickmann (in der Sonderausgabe Ballett aus Anlass „15 Jahre Staatstheater Nürnberg Ballett“ und damit auch „15 Jahre Goyo Montero“) gibt der Ballettchef seine „Trigger“ bekannt: Musik. Literatur. Malerei. „… all das arbeitet in mir, bis ich damit arbeite.“ Es ist vor allem Johann Sebastian Bach, der sich wie der sprichwörtliche rote Faden durch den Geist Monteros zieht, sich gleichsam dort eingenistet hat. Montero bezeichnet Bach als Mathematiker und musikalischen Architekten – dessen Emotionalität und Komplexität lassen den Nürnberger Ballettchef nicht kalt und auch nicht los. Goldbergs Variationen mögen eine Art Lebenselixier sein – vor 22 Jahren hat Goyo Montero Heinz Spoerlis Version selbst in Berlin getanzt. Und nun verwebt der 2018 mit dem Deutschen Tanzpreis Ausgezeichnete seine seelische Berührung mit Bach mit seinen während der Pandemie detailliert vorangetriebenen Studien über das Schlafen und Wachen. Und Träumen. Träume auch als Bewältiger von seelischen und körperlichen Belastungen. Träume ich? Wache ich? Weiß ich, dass ich träume? Und wie komme ich aus dem Alptraum ans Licht? Gleichwohl: ein Alptraum ist das Stück sicher nicht. Und aufwachen will man auch nicht unbedingt. Im Gegenteil: Eine Spur Verärgerung macht sich breit, als das Licht im Saal des Staatstheaters nach eineinhalb Stunden wohligen Träumens angeht. Auch Auswärtigen läuft ein wohliger Schauer über den Rücken, treibt es eine Träne der Rührung in die Augen angesichts eines nicht enden wollenden Applauses, der beim Erscheinen des Ballettdirektors und Chefchoreografen Goyo Montero aufbrandet. Hinter dem schließlich doch fallenden und die stehenden Ovationen ausschließenden Vorhang fällt ein aus mehrfacher Kehle ausgestoßener Jubelschrei. Zu Recht hervorgestoßen.
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