„Violent Eventˣ“ von Billinger & Schulz

„Violent Eventˣ“ von Billinger & Schulz

Alles ganz normal

„Violent Eventˣ“ von Verena Billinger & Sebastian Schulz bei der Tanzplattform 2016

Gewalt ist völlig normal, konstatieren Billinger & Schulz und führen das mit großer Präzision und schwer ertragbarere Nüchternheit vor. Damit kratzen sie erfolgreich an einem großen Tabu.

Frankfurt/Main, 03/03/2016

Gewalt polarisiert: Sie erzeugt heftige Emotionen, Ablehnung genauso wie dunkle Anziehungskraft und Parteinahme für die Opfer. Natürlich ist Gewalt moralisch fragwürdig, im Alltag abzulehnen und nur im äußersten Notfall anzuwenden – so oder so ähnlich würden es wohl die meisten Theatergänger unterschreiben. Verena Billinger und Sebastian Schulz sehen das alles ganz nüchtern. Die beiden stets im Duo auftretenden Choreografen, geprägt durch sämtliche einschlägige Studiengänge in Frankfurt und Gießen, haben einen kritischen Blick auf vermeintlich unstrittige gesellschaftliche Konventionen. An der Liebe haben sie sich schon kräftig und erfolgreich gerieben: institutionalisiertes Dauerküssen in „Romantic Afternoon*“ (2011) oder ein analytischer Blick auf die Paarbeziehung in coolen Zeiten in „First Life – ein Melodram“ (2012). In ihrer jüngsten Produktion „Violent Eventˣ“ (2015) widmen sie sich einem tabuisierten Thema und schafften es damit zur Tanzplattform 2016 – für die beiden vom Künstlerhaus Mousonturm produzierten choreografischen Hoffnungsträger 2015 der Zeitschrift „tanz“ ein Heimspiel.

Gewalt ist völlig normal – mit dieser aufrührerischen These gehen die fünf Protagonisten an die Arbeit und tun sich gegenseitig mal ordentlich weh. Dabei balancieren sie auf einem schmalen Grat: Es darf nicht zu harmlos wirken, aber auch nicht so, dass die Zuschauer die Tanzfläche stürmen, um Einhalt zu gebieten. Gewalt austeilen, Gewalt einstecken – das wird hier mit präziser Nüchternheit vorgeführt, immer mit Ansage und mit wechselnden Rollen. In Ballsportarten zum Beispiel ist eine gewisse schmerzhafte Trefferquote am Körper des Spielers einkalkuliertes Risiko – hier wird es zum Programm. Die Anspielungen sind dabei vielfältig, die Grenzen fließend. Plötzlich sind Krieg, Terror und Foltertechniken mit im Spiel, und mit unbeteiligter Stimme und unbekümmerter Miene wird von Grausamkeiten jeder erdenklichen Art berichtet. Diese scheinbare Neutralität macht es so schwer, das Stück zu ertragen – Empathie und Abwehr wollen sich nicht in der erwarteten Weise einstellen.

Ein paar Mal finden Szenen quasi hinter dem Vorhang statt und machen deutlich: Wo die Betrachter auf ihre Phantasie angewiesen sind, werden heftigere Emotionen wach als in der kühlen Atmosphäre des Bühnengeschehens, in der die Gewaltausübenden freundlich und die Opfer ungerührt wirken. Am Ende führt diese systematische Desensibilisierung fast logisch zur ‚witzig’ gemeinten Gewalt in Comics für Kinder, und das systematisch erzeugte Dumpfbackentum gipfelt in einem nicht enden wollenden Refrain aus einem rechtsextremen Party-Song, in dem abwechselnd auf ‚Jesus’ wie auf ‚Hitler’ gemacht wird. So böse endet die Gewaltstudie, der man sicher nicht denselben Siegeszug von Festival zu Festival vorhersagen kann wie dem exzessiven Dauerküssen – aber einen Preis für Tapferkeit haben Billinger & Schulz schon verdient.
 

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