„Chorus“ von Mickael Phelippeau

„Chorus“ von Mickael Phelippeau

Tanz für alle Fälle

Resumee der diesjährigen Ausgabe von Tanztheater International in Hannover

Die 28. Ausgabe des Tanztheater International offerierte an zehn Tagen elf verschiedene Produktionen für Tanzafficionados, die süchtig nach Überraschungen sind.

Hannover, 08/09/2013

Von Alexandra Glanz

Der Schwerpunkt Frankreich, das war eher Zufall, gestand Christiane Winter. Überzeugen ließ sich die langjährige Festivalchefin von Produktionen, die ihren Anspruch auf „das Leben in der Gemeinschaft“ erfüllten. Dazu gehörte eine Produktion wie Mickaël Phelippeaus bewegender und bewegter „Chorus“, mit dem das Festival startete. Ein Chor singt Bachs Kantate „Nicht so traurig, nicht so sehr“ immer wieder neu arrangiert, immer wieder anders choreografiert. Ebenfalls überwältigend dicht: Anne Nguyens Compagnie par Terre mit „Autarcie (...)“, ein kompromissloser Zickenkrieg für vier Breakdance- und Popping-Tänzerinnen, die den Hip-hop verweiblichen.

Mit dem Schweizer Martin Schick endeten die intensiven Tanztage. Schick bot neben seiner rotzfrechen Performance „Halfbreadtechnique“ zusätzlich einen Workshop an: „The Spectacular Spectator“, weil doch jeder Mensch auch ein Zuschauer sei: „Darf ich Du zu Dir sagen, Du Publikum?“. Der Workshop war ein Novum im Festivalgeschehen. Tradition hatten dagegen die deutschen Erstaufführungen. Stolze fünf an der Zahl.

Drei Uraufführungen gab es obendrein. Zum zweiten Mal in Folge hatten das Ballett der Staatsoper Hannover und das Festival Tanztheater International jungen Choreografen ein Stipendium gewährt. Das waren die Kubanerin Maura Morales, der Japaner Shumpei Nemoto und der Deutsche Matthias Kass, die aus 50 Bewerbungen ausgewählt worden waren. „Think Big“ ist die Förderoffensive überschrieben. Bitte, lieber Tanzgott, gewähre ihr ein langes und budgetreiches Leben!

Festivals sind nicht nur für den Veranstalter ein Parforceritt, sondern auch für den ehrgeizigen Zuschauer, der nichts versäumen möchte. Deshalb hier ein sehr kurzer Blick auf die Erstaufführungen:

Rachid Ouramdanes „Sfumato“. Mit der Librettistin Sonia Chiabretto hat Ouramdane ein eindringliches Szenario entwickelt, das Klimaflüchtlingen ein Denkmal setzt. Schrecklich und schön sind die Bilder, die sich auf der Bühne auftun: Wenn Jean-Baptiste André eine Wasserflut in tanzende Tropfen verwandelt, wenn Lora Juodkaite sich so schnell und ausdauernd dreht, dass man den Notruf auslösen möchte.

Heddy Maalems „Éloge du puissant royaume“, eine Hommage auf den Krump. Der Begriff ist die Abkürzung für „Kingdom Radically Uplifted Mighty Praise“, ein Tanz aus den bitterarmen Stadtteilen Los Angeles’. Fünf Krump-Tänzer, drei Männer, zwei Frauen, gefallen sich in schmerzhaften, aggressiven Macht- und Siegerposen. Und am Ende siegt doch die etwas andere Zärtlichkeit.

„Come back (to me)“ verlangt Kenneth Kvarnström. Komm zurück, zu mir oder wohin auch immer. Kvarnström, skandinavischer Starchoreograf, beschreibt mit drei außergewöhnlichen Tänzern eine klassische Liebe zu dritt. Man könnte denken, das kennen wir schon. Doch weit gefehlt. Kvarnström lässt Tänzer singen, sogar im Falsett, und erlaubt ihnen ein kontrastreiches Bewegungsvokabular, das von der kaum wahrnehmbaren Geste reicht, den Kopf anlehnungsbedürftig zur Seite zu neigen, bis zum supercoolen Kung-Fu-Sprung.

Sébastien Ramirez’ & Honji Wangs „Borderline“: Die Zwei treiben, diesmal mit drei Mittänzern, den Hip-hop in die heitersten und zauberhaftesten Gefilde. Wie Marionetten schweben die fünf Tänzer (drei Männer, zwei Frauen, darunter die Choreografen) durch die Szene, dank Seilwinden, die ein Rigger kontrolliert, der Schwerkraft völlig enthoben. So entstehen surreale Bilder. Ein besonders wundersames: Honji wandert Schritt für Schritt auf Sébastiens linker Seite hoch, über seinen Kopf und rechts wieder hinunter.

Martin Schicks „Halfbreadtechnique“: Das sei „Postkapitalismus für Anfänger“, sagt Schick über sein kurzweiliges Spektakel und fordert sein Publikum charmant auf, seinen Raum auf der Bühne mit ihm zu teilen. Die eine Hälfte der Bühne hat er schon vergeben: an einen professionellen Tänzer. Gegen die Hälfte von Schicks Gage versteht sich. Es darf viel gelacht und gedacht werden.

Am Ende: Nach diesem zehntägigen Tanz-Medley gingen alle glücklich nach Hause. Festivaldirektorin Christiane Winter punktete mit einer sensationellen Platzauslastung von 97 Prozent und die Zuschauer erfuhren erneut, dass die zeitgenössische Tanzsparte als Sprache für alle Fälle funktioniert.
 

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