„Contemporary Dance 2.0“ von Hofesh Shechter

„Contemporary Dance 2.0“ von Hofesh Shechter

Getanzte Teilchenphysik

Zum Abschluss der letzten Ausgabe von Tanztheater international in Hannover

In Christos Papadopoulos' „ION“ schlurfen die Ionen durch die Orangerie und Hofesh Shechters Junior*innen rocken in „Contemporary Dance 2.0“ das Schauspielhaus.

Hannover, 13/09/2022

Das Schlusswochenende der letzten Ausgabe des Festivals „Tanztheater international“ in Hannover vereinte nochmal zwei entschieden gegensätzliche Positionen des gegenwärtigen Tanztheaters: Bot Christos Papadopoulos mit „ION“ in der Orangerie Herrenhausen geradezu meditative Exerzitien über Annäherung, Verbindung und Abstoßung, drehte die Junior-Compagnie von Hofesh Shechter mit ihrem „Contemporary Dance 2.0“ im Schauspielhaus nochmal richtig auf und zeigte, wie nah am Clubbing und rockiger Unterhaltung Tanztheater gebaut sein kann. 

Dass Shechter im Finalsatz seines Fünfteilers Frank Sinatras „My Way“ erklingen lässt, war zugleich der passende Ausklang für Christiane Winters 37-jährige Intendanz, denn ähnlich unbeirrt ist sie ihren Weg gegangen, um internationale zeitgenössische Tanzpositionen in Hannover zu positionieren. Eine Frau, die zäh und unermüdlich aus einem privaten Verein heraus Jahr für Jahr erneut die Sponsorengelder aquirierte, dabei nie viel Wesens um sich machte und lieber die Künstler*innen sprechen ließ. So auch an diesem letzten Abend ohne Feier, ohne Reden. Dafür aber unter dem frenetischen Applaus des Publikums, das dem Festival wiederum ansehnliche 95 Prozent Auslastung bescherte.

„ION“, hier als Deutsche Erstaufführung zu sehen, war eine der stärksten Arbeiten dieser Festivalausgabe. Im Schimmer einer niedrig angebrachten fahlen Leuchtröhre hört man zunächst mehr, als man sieht, wie Tanzende über den Boden tapsen, schnell, einzeln, zu mehreren. Langsam nur steigt die Lichtquelle, Nebel wird über die Bühne gesprüht, der sich wie schneeige Schmiere auf den Boden setzt und die Tanzenden nun zu sanft gleitenden Bewegungen zwingt. 

Sie bilden zunächst einen auf der Stelle tretenden Pulk. Die Gleitbewegungen sind lange nur ein Ein- und Auswärtswischen der Füße, womit man sich aber voranbewegen kann. So wabert der Kreis über die Bühne, verändert dabei ein wenig seine Form, bis Erste abdriften, sich die Gruppe teilt, aus diesen aber wieder einige ausscheren oder sich mit der anderen Gruppe wiedervereinen. Das erinnert, wie der Titel sagt, an Ionenverbindungen oder besser noch Elektronenpaarbindungen, deren energetische Kraftfelder Teilchen gemeinsam nutzen, aber eben auch unter dem Einfluss stärkerer Ladungen abgeben. 

Minimal Music schafft die passende Begleitung zu dieser getanzten Teilchenphysik, die nur allzu gut als Abbild gesellschaftlicher Prozesse taugt, von der Meinungsbildung über Schwarmintelligenz bis zur Beziehungserotik. Die Tanzenden setzen das mit eindrucksvoller Disziplin um, muss doch der Oberkörper trotz der Wischbewegung der Füße oft starr bleiben oder mit den biegsamen Armen Ortung im Raum vollziehen. Ein suggestives Stück.

Mitreißend dann am letzten Tag die 18- bis 25-jährigen Tänzer*innen von Hofesh Shechter II in der Update-Fassung seines Stücks „Contemporary Dance“ - jetzt also „2.0“. Hier sind die Tanzenden deutlich als Individuen unterschieden. Aber auch sie bilden Gruppen, Teilmengen, Reihen, allerdings mit dem ganzen Körper agierend, zu Shechters selbst komponierter Musik in den Hüften schwingend, aus den Knien herausfedernd, die Arme werfend. Eine bleibt liegen am Ende der Nacht, kriecht auf allen Vieren davon, während die anderen im Lichtkegel posen. Das war die Abteilung „Pop“, auf einer Tafel annonciert wie später auch die Teile „Feelings“, „Mother“, „Contemporary Dance“ und „Finale“. Zwischentitel ohne logischen Subsummierungscharakter. Sind „Mother“ oder „Contemporary“ ohne Feelings? Waren „Mother“ und „Feelings“ nicht Contemporary getanzt?

Die Assoziationsmaschine im Zuschauerhirn rattert. Gab es in „Feelings“ nicht endlich ein Paar, einen fluiden Reigen erhobener Hände, zwei sich wälzend am Boden? Gab es bei „Mother“ ein Familienbildnis mit einer Reihe Sitzender vor den dahinterstehenden Kolleg*innen? „Contemporary“ beginnt mit Bachs „Air“, die Tanzenden springen umso wilder und kreisen karikierend im Hopserlauf - eine merkwürdig diskrepante Passage. Später wird es noch energisch, bei Hochhalten des Peace-Zeichens sogar aggressiv. Und wer wollte schwören, dass wir nicht immer mal wieder dieselben Versatzstücke sehen, zu anderer Musik anders arrangiert: Erhobene Hände, die sich vereinen zur Chorus Line; ein Pulk im Lichtkegel, aus dem energisch ein Typ mit Krawatte hervorschreitet und sich dann unverrichteter Dinge im Seitenfeld integriert - im „Finale“ gibt es definitiv eine genaue Replik davon. Aber auch die Gruppe im Spagat. 

Vielleicht sind die Schilder ohnehin bloß Fake für eine machtvolle Tanzshow, die die Vielfalt zeitgenössischer Bewegungen feiert und über Strecken auch als Party abtanzt. Genau darin aber ist sie eben auch Ausdruck einer formal weniger bekümmerten, den Glauben vom emotionalen Movens jeder Bewegung aufgebenden Tanzsprache. Shechters Amalgamierung der Rockshow- und Clubbing-Elemente macht ihn wild und zahm zugleich, indem er die Tanzwut der jüngeren Generation einfängt, aber auch deren Spaßbedürfnis erliegt, wo doch die Manipulationsmechanismen dieser Unterhaltungsformen zu beleuchten wären. 

Im „Finale“ erreicht er einen Moment der Leere, die Bühne atmet noch den Schweißnebel, das wäre ein Schlussbild gewesen für dieses Stück und für dieses Festival. Denn so fallen wir alle immer wieder aus unseren Ekstasen in die kahle Wirklichkeit zurück. Doch die Tänzer*innen kommen nochmal wieder und machen weiter. Und das Publikum geht nochmal richtig mit. Jubel, Stimmung, alles geil. Aber es ist gut, wenn man sich die Erinnerung an diesen kurzen Abgrund aus Stille und Leere bewahrt, den müssen wir aushalten lernen, um neue Kraft zu ziehen. Die Tänzer*innen werden das kennen. Gut, dass es auch diesen Moment gab. Gut, dass wir dieses Festival hatten.   

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