Richard Siegal geht (zurück) nach Bayern
Das Staatstheater Nürnberg bekommt ab der Spielzeit 2025/26 einen neuen Ballettdirektor
„Auf Vergangenes zurückzublicken, es in der Erinnerung wieder entstehen zu lassen, heißt, es durch den Spiegel der Gegenwart zu schauen und es von hier aus ins Bild zu setzen.“
Dieses Zitat Mary Wigmans von 1963 passt nur allzu gut in die heutigen Debatten um die Rekonstruierbarkeit von Tanz. Sich gegenüber einer wenig erschlossenen Vergangenheit zu positionieren und Geschichte(n) neu anzuordnen, ist ein Versuch, aus dem viele Rekonstruktionen hervorgingen. Eigentlich ist das kein Phänomen der heutigen Tanzgeschichte, denn man rekonstruierte ja schon immer Werke, um kulturelle Hinterlassenschaften zu erhalten. Doch in den letzten Jahren wurde nach Wegen gesucht, sowohl auf Seiten der Wissenschaft als auch auf der der Künstler, das immaterielle Erbe Tanz nicht nur nach traditionellen Mustern des Archivs oder der Repertoirepflege im Ballett zu konservieren, sondern es erneut zu beleben und kritisch zu reflektieren. Initiativen wie der TanzFonds Erbe der Kulturstiftung des Bundes oder Sasha Waltz’ Living Archive zeugen davon. Tanz galt plötzlich als lebendige Kunstform und Choreografen konzentrierten sich auf Verbindungen zwischen Erinnerungen, Zeugnissen der Vergangenheit und Gegenwartsbezügen. Der Körper wurde entdeckt als Gedächtnisort und verabschiedete die Illusion, ein Tanzereignis, das nicht ersetzbar ist, wiederherstellen zu können. Begibt man sich in dieses Netz aus Begriffsfallen rund um das Tanzereignis, ist man sogleich verloren. Archiv und Werk, Autorschaft und geistiges Eigentum, Körper und Erinnerung – ein scheinbar unauflösbares Knäuel.
Wissen ist Möglichkeit und Gefängnis
Ein Archiv verwaltet Wissen und konserviert Geschichte. Unmengen an Material verhindern oft eindeutige Aussagen. Festhalten lassen sich aber weder Aufführungen noch Bewegungswissen. Das Werk? Existiert nicht – denn es ist Ansammlung von verschiedensten Elementen und Perspektiven, also diskursiv. Und von Original will man gar nicht erst anfangen zu sprechen. Alles Kategorisierungen, die vermeintlich ursprünglich Authentisches in den Griff bekommen wollen. Hinfort damit und her mit Begriffen wie Docuembodiments und archlives, verkörperte Dokumente und lebendige Archive. Der Körper wird zum Wissensspeicher als sinnlicher Zugang, der neben der materiellen Spur der Dokumente tanzt – das ist der Status quo. Von diesem Punkt aus wird rekonstruiert.
Rekonstruktionen sind immer Rückblenden
Der tanzende Körper steht aber, da er ja an den Leib gebunden ist, im Widerspruch zur zeitlosen Choreografie, deren Bestandteile dokumentiert werden können. Oder: Erfahrung vs. Erkenntnis – das sind die (Nicht-)Spuren, die in Rekonstruktionen auf Überreste der Vergangenheit deuten. Und so tun sich mit dem Körper zwei Wege des Erlebens und Wahrnehmens auf: das kommunikative Gedächtnis der Zeitzeugen und das Körpergedächtnis der Tänzer. Mündliches Überliefern oder die Weitergabe von Körper zu Körper.
Das schränkt zeitlich ein. Es ist nicht verwunderlich, dass Rekonstruktionen sich vor allem auf den Tanz des 20. Jahrhunderts beziehen, oder eben auf die Werke fernab des Ballettrepertoires. Das Bayerische Staatsballett begibt sich in der nächsten Spielzeit auf die Suche nach jenen Umbrüchen, die den Tanz in Deutschland revolutionierten: dazu gehören das Bauhaus inspirierte „Triadische Ballett“ und der in den 50er Jahren entstandene „Sacre“ von Mary Wigman, der Grande Dame des Ausdruckstanzes – eines ihrer letzten Stücke, von dem vielfarbige Skizzen erhalten geblieben sind. Unbearbeitet liegen diese im Archiv der Akademie der Künste in Berlin und zeigen Formationen, Körperhaltungen und Szenen des „Sacre“. Aufnahmen existieren nicht, dafür Briefverkehr und viele Notizen Wigmans.
Auch Baden-Württembergs Produktionszentrum Tanz+Performance appelliert an die traditionsreiche Vergangenheit Deutschlands. Mit dem Festival „Tanzlokal/Tanzfest Stuttgart“ nehmen sie mit Baden-Württembergs einen einstigen Schauplatz des Ausdruckstanzes unter die Lupe. Abseits des Verständnisses, eine Rekonstruktion müsste möglichst originell ein vergangenes Ereignis zeigen, begeben sie sich auf Spurensuche.
Rekonstruktion als Produkt ihrer Zeit – und ihrer Geschichte, die konstruiert immer lückenhaft ist. So geht es bei den gegenwärtigen Rekonstruktionen auch immer um das Ausstellen von Differenz und um die Frage nach dem unüberbrückbaren Abstand zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Ein Spiel mit dem Gedächtnis
Olga de Soto wagte sich 2004 mit „histoire(s)“ an eine Rekonstruktion des Balletts „Le jeune homme et la mort“, die nur im Gedächtnis tanzt. Mit Geschichten – dokumentiert in Interviews – erschafft sie eine Welt der fiktiven Bilder, in die man hineingesogen wird und aus der jeder Zuschauer mit seiner ganz eigenen Version des Balletts hinausgeht. Die Rekonstruktion von „Der grüne Tisch“, die letztes Jahr Premiere hatte, dagegen ist schwierig: „Débords. Reflections on The Green Table“ nennt sie die Arbeit, in der sie wiederum Interviewausschnitte von Zeitzeugen aneinanderreiht. Die Tänzer arrangieren Erinnerungen, rücken die Elemente an den rechten Platz, um die Zuschauer an den Gedanken der Interviewten teilhaben zu lassen. Verschiedene Perspektiven und Räume entstehen rund um ein Gedächtnis, das vom einstigen Publikum zum heutigen Publikum übermittelt, nicht von Körpergedächtnis zu Körpergedächtnis Tänzer verschiedener Generationen getragen wird. Beschreibungen, Details und Bruchstückhaftes eines vergangenen Stücks setzen sich im Publikum fest – nur durch das gesprochene Wort. Statt sich also vergangenen Bewegungsabläufen zuzuwenden, widmet sich die Choreografin der Geschichte und Rezeption von Kurt Jooss' grünem Tisch. Und hier liegt das Problem: So viele verschachtelte Ebenen, Gedankenblitze und Assoziationen, die im Laufe des Abends sich immer wieder mal zu wiederholen scheinen, verlieren an Intensität und werden zusammenhanglos.
Eine Annäherung durch Erinnerung versuchte auch Antje Pfundtner in ihrer poetisch-trashigen Collage zu Tschaikowskys Ballettklassiker „Der Nussknacker“. Versunken im subjektiven Erleben und verschiedener Assoziationen zeigt ihr instinktiver Zugang Archiv- und Erinnerungslücken.
Stephanie Thiersch baut sich in der Installation „Memory Machine“ kurzerhand ihre eigene Tanzgeschichte mithilfe von Zeitzeugenberichten und imitiert Gehirnprozesse.
Dekonstruktion
Pina Bausch rekonstruiert sich selbst („Wind von West“ von 1975 unter der Leitung von ehemaligen Tänzern der Urbesetzung hat im November Premiere) oder wird zum Ziel, das es auszulöschen gilt.
Sebastian Blasius scheiterte daran mit „Erasing Café M“. Was soll man auch noch mit einem Stück machen, das bereits zur eigenen Rekonstruktion wurde und sich seit der Uraufführung 1978 auf der ganzen Welt immer wieder neu hervorbringt? „Café Müller“ steckt in einer wiederkehrenden Rückblende, die Vergangenheit nicht vergehen lässt, als dauernd Werdendes bestehen bleibt und nur noch in seiner eigenen Musealisierung wahrgenommen zu werden scheint. Also wird alles, was daran erinnert und bedeutet, kurzerhand ausradiert. Das kollektiv Imaginäre: ein Bühnenraum voller schwarzer Stühle und Tische, die spindeldürre Pina im weißen Nachthemd, verzweifelte Begegnungen der Körper. Einfach ausgelöscht. Übrig bleiben die ersten zehn Minuten des 'Originals' ohne die tragende Musik Henry Purcells im leeren Raum. Entzeitlichte Überreste, die weder vergangen noch präsent sind.
Jochen Roller verzichtet mit seinem Online-Projekt „The Source Code“, das im Herbst online geht, gänzlich auf die Aufführung und wechselt in eine virtuelle Welt: Der Prozess der Dokumentation als einzig sinniges Bruchstück bei der Bearbeitung von Vergangenheit, und der Körper wird zum blinden Fleck, der gar nicht mehr ergründet werden will. Das bedeutet aber auch, dass sich zwischen Bewegung und Dokumenten Referenzen ziehen lassen, das Schreiben über Tanz – das so oft als unmöglich dargestellt wurde – nun doch funktioniert und fruchtbar ist.
Das Original, nur noch Mittel zum Zweck?
In dem Fall scheint auch die Frage nach dem geistigen Eigentum und Autorschaft – im Tanz reflektiert durch Christoph Winklers „Dance? Copy! Right!“ oder Richard Siegals „©o Pirates“ - nicht weiter zu beschäftigen. Ein Thema, das, verglichen mit dem Bereich der Musik, im Tanz stiefmütterlich behandelt wurde (denn urheberrechtlich schützenswertes Material im Tanz zu definieren, ist schwierig) oder so rigide, dass Material völlig unzugänglich gemacht wurde.
Vergangene Stücke dienen als Wissensquelle bei der Rekonstruktion, oder besser: im Prozess der Aneignung. Sie werden in Besitz genommen und zugleich ihrem vergangenen Kontext entfremdet. Man identifiziert sich mit ihnen, gibt ihnen eine individuelle Prägung, während man sich vom Original löst und es sich zugleich einverleibt. Aneignung durchdringt und ist Aktion. Sie ist Handlungsmöglichkeit, die weder nachahmt, abbildet noch kopiert, wohl noch viel weniger neu erfindet, sondern immer auf ihre Art umdeutet.
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