Euridiken und Orpheuse

Gregor Zöllings neuer „Orpheus“

Osnabrück, 22/02/2002

Gregor Zöllig, seit 1997 Tanztheater-Chef am Osnabrücker Theater, gehört zu den heute in der einschlägigen Szene raren Persönlichkeiten, die ihre Produktionen fast ausschließlich aus dem Tanz heraus gestalten und vordergründiger Radikalität nichts abgewinnen können. Selbstbewusst vertraut er auch bei der neuesten Choreografie „Orpheus“ seiner Bewegungsfantasie - und der seiner zehn Tänzerinnen und Tänzer, deren Mitarbeit an der Choreografie im Programmheft vermerkt ist. Sie verwandeln sich in je fünf Euridiken und Orpheuse, gehüllt in Alltagskleider. Klar ist die Intention: den Mythos in die Gegenwart holen, Liebe und Verlust, Miteinander und Auseinander zu zeigen.

Links und rechts der Bühne schräge, halb im Boden versunkene Gebäudeteile wie in einem expressionistischen Drama, hinten Felsen (Ausstattung: Harald Stieger). Zu Beginn ist mehr zu ahnen als zu sehen. Einzelne Personen schälen sich aus dem Halbdunkel (als sei es der Hades), bewegen sich im schmalen Lichtband und auf einem Lichtkreuz, das gegen Ende wiederkehrt. Die Arme strecken sich aus in Sehnsucht, verschlingen, ver- und entflechten sich, Hände drehen sich.

Die Orpheuse treten nacheinander auf, Blumen im Arm, die fünf Euridiken weichen zurück - der erste Verlust. Vernehmliches Weinen und Schluchzen werden genau zu jenem Punkt getrieben, an dem sie enervierend werden, ins Komische abkippen: Dann folgt ein skurriler Trauertanz des Orpheus-Quintetts mit Übersetz- und Seitschritten, Wippen, einen Fuß eingedreht, ausgedreht zur Seite setzen – Volkstanzanklänge, bei denen um die Ecke der Schuhplattler lauert. Im Hintergrund streicht eine Euridike dazu nonchalant die singende Säge. So wird Pathos unterlaufen. Zöllig entwickelt das Geschehen geduldig, mit Mut zur Langsamkeit. Jede Euridike, jeder Orpheus offenbart im Solo sein und ihr Inneres.

Wenn Zöllig die fünf Männer in den Furientanz Glucks jagt, dann wird eine Schwäche offenbar, trotz der eigentlich geschickten Musikauswahl: Der genau kalkulierten Steigerung Glucks wird nichts Vergleichbares entgegengesetzt, sie wird aber auch nicht sichtbar gewollt unterlaufen. Brechen drohend die Posaunen herein, dann wuselt die Männertruppe ungerührt weiter. Wozu dann die dämonische Musik? Besseren Zugang hat Zöllig zum „Reigen der seligen Geister“, in dem er das Sehnen der fünf Euridiken mit einfachen Gebärden offenbart. Davor haben sich die Frauen über ihren Orpheus unterhalten: Was der wohl macht dort oben? Da wird's platt, banal, zur Vertiefung trägt es nichts bei, stört lediglich.

Zöllig gelingen traumhaft schöne Sequenzen wie die anrührenden Pas de deux vor dem zweiten Verlust, in denen sich die Orpheuse und Euridiken ihrer Liebe mit abgewandten Gesichtern, von den Händen verdeckten Augen versichern. Schleppen, Ziehen, Schieben, Tragen, auch Stoßen und Treten von hinten in die Kniekehle des Partners verdeutlichen das Wechselbad der Gefühle. Oder die beiden Regenbilder, in denen wahre Wasserfluten aus dem Schnürboden herabstürzen und auf den Tanzteppich prasseln. Im „verregneten“ Schlussbild absolviert ein Orpheus mit einer Euridike quasi „Dancing in the Rain“. Vom hoch geworfenen Frauenhaar löst sich ein Wasservorhang, mit der Fußsohle werden Fontänen empor gewirbelt. Die Kleider kleben an den Körpern, die erotische Kraft der Liebe leuchtet. Aber schließlich steht dieser Orpheus mutterseelenallein unter dem ausgeleuchteten Niederschlag.

Jeder der Tänzer präsentiert sich intensiv, konzentriert, jeder als eine eigenständige Persönlichkeit: ein bemerkenswertes, sympathisches Ensemble: Claudia Braubach, Anna Eriksson, Nina-Patricia Hänel, Amelia Poveda, Brigitte Uray, Gianni Cuccaro, Hannes Diehl, Dirk Kazmierczak, Angelo Larosa, Roberto Morales. Schade nur, dass der „fremde“ Zuschauer nicht weiß, wer nun welchen Part tanzt. Das Programmheft, selbstredend mit Zitaten großer Dichter vom Format Ovids, Yvan Golls und Ingeborg Bachmanns vollgestopft, ordnet die Tänzer nicht der Reihenfolge ihrer Auftritte zu. Es stellt zwar ihre Profile einigen Texten gegenüber, nennt aber nicht die zugehörigen Namen. Ebenso schlampig wird mit der Musik umgegangen: Die Komponisten und Gruppen werden lediglich pauschal unter „Musikcollage“ aufgeführt. Keine Angabe, welche Werke der genannten Komponisten, z.B. Glass und Gluck, und der Gruppen (darunter Moondog,) verwandt wurden, geschweige denn, in welchem der sechs Bilder sie erklingen.

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