Staatstheater Nürnberg, “NOISE SIGNAL SILENCE”, "Unitxt": Choreografie Richard Siegal.

Angekommen, aber ganz bei sich

Richard Siegal feiert seinen Einstand am Staatstheater Nürnberg mit „Noise Signal Silence“

Sein selbstbewusster Aufschlag in Franken lässt sich schwer unter ein Begriffsdach bringen und wirft dramaturgische Fragen auf. Aber die neue Kompanie brilliert und der Dauerbrenner „Unitxt“ zündet.

Nürnberg, 16/11/2025

Die Hände schützend vor dem Gemächt, die Schultern extrabreit, lockerer Sidestep: Das ist der „männliche“ Signature-Move in Richard Siegals „Unitxt“. Der „weibliche“ kommt mit neckischen Hüftschwüngen daher, während die Spitzenschuhe wie Schlagbohrer über dem Boden vibrieren oder die knallenden rhythmischen Pattern nachzeichnen, die Alva Notos elektronische Musik vorgibt. Eine leicht kerlige Grundhaltung bringen dagegen beide Geschlechter mit: Der Unterleib stürmt nach vorn, der Restkörper ist leicht verdreht oder bringt sich wuchtig dahinter in Stellung. Man gleicht sich an.

Das Stück, das Siegal 2013 für das Bayerische Staatsballett choreografiert und seither in verschiedene Double und Triple Bills integriert hat, schlägt auch im Nürnberger Opernhaus ein wie eine Bombe. Es ist musikalisch mitreißend, unglaublich gut gebaut und bis heute das Beispiel für den neoklassischen Ansatz des US-amerikanischen Choreografen: Als Siegals erstes Stück auf Spitzenschuhen ist es tief verwurzelt im klassischen Ballett und seinen Geschlechterstereotypen, hebt aber sehr frei davon ab in eine fast futuristische, von Clubkultur, Street Credibility und den Neuerungen des digitalen Zeitalters geprägte Gesamtkunstwerkhaftigkeit. Vollkommen klar also, dass der neue Nürnberger Ballettdirektor sein Signaturstück in den Abend integriert, mit dem er  in der Frankenmetropole seine ersten Duftmarken setzt. Mit seiner technischen Komplexität und den vielen organisch wirkenden Übergängen zwischen Soli, Paar- und Gruppenszenen eignet es sich wunderbar für eine tänzerische Leistungsschau und holt auch traditionellere Liebhaber der Sparte ab. Und da haben wir noch gar nicht über den schillernden Humor gesprochen.

Das alles gelingt auch hier. Die neue Kompanie mit dem etwas unhandlichen Namen Staatstheater Nürnberg Ballet of Difference präsentiert sich in Hochform. Fast unmöglich auszumachen, welches Drittel der Tänzer aus Siegals 2016 in München gegründeten und bis vor zwei Jahren am Schauspiel Köln beiheimateten Ballet of Difference kommt, welches aus Goyo Monteiros gefeierter Nürnberger Truppe und wer ganz neu gecastet wurde. Alle Siegal-Neulinge haben sich die tänzerische Fremdsprache schnell zu eigen gemacht. 

„Noise Signal Silence“ heißt der gesamte Abend. Ein Titel, den Richard Siegal schon verschiedentlich verwendet hat und der mit übergroßen Buchstaben über die Rückwand der nahezu leeren „Unitxt“-Bühne zieht. Hier kann man ihn durchaus programmatisch lesen: „Unitxt“ selbst ist der in jeder Hinsicht elektrisierende Mittelteil des Eröffnungs-Triptychons. Mit der Intro, dem 2019 für das Staatsballett Berlin kreierten „Oval“, fällt Siegal nicht nur akustisch mit der Tür ins Haus, während die Uraufführung „Lilac“ einen überraschend ruhigen Schlusspunkt hinter den Abend setzt. 

Die beiden Stücke sind auch sonst in vielem gegensätzlich: Während „Lilac“ auf einem fast intim wirkenden Bühnendreieck stattfindet, wird „Oval“ von einem wie ein Raumschiff über der Szene schwebenden Lichtobjekt dominiert (Design: Matthias Singer). Unter dem blinkenden Oval, aber ohne große Beziehung zu ihm, übertragen 12 Tänzerinnen und Tänzer in hautengem Latex Ballettgrundpositionen und Codes in ein tänzerisches Wimmelbild, das nach Zukunft und jenseitigen Welten aussieht, aber nicht nach schönen. So gespreizt, eckig, eiskalt durchexerziert und letztlich auch beliebig ist hier alles. „Lilac“ dagegen hat einen fast elegischen Grundton, der sich nicht nur Lorenzo Bianchi Hoeschs musikalischem Konzept verdankt, das Benjamin Clementines Stimme und Nick Drakes Song „Riverman“ sanft umspielt. Sondern auch den plötzlich weiche Schleifen ziehenden Bewegungen der Tänzer*innen. Während sie die Signature Moves von „Unitxt“ einzuüben scheinen, senkt sich von oben eine Lichtsäule ins Bild, deren Pink an das „Oval“-Objekt erinnert. 

Siegals Neukreation ist selbstreferenziell mit Ansage – und erzählt fast eine kleine Geschichte. Da sind Männer in kurzen Hosen, die Monte Verità-Vibes versprühen, da ist eine martialischere Männer-Gruppe mit ähnlichen Henkeln an den Kostümen, wie die der Industriedesigner Konstantin Grcic für die „weiblichen“ „Unitxt“-Tänzerinnen ersonnen hat: Nutzbar als freiheitsbeschränkende und Sicherheit garantierende Haltegriffe gleichermaßen. Da sind ein paar Frauen dazwischen und ein Spruchband erklärt „we need not destroy the past. It is gone.“, während ein akustisches Gewitter aufzieht. 

„Lilac“ erzählt vom Zusammenfinden und vom Neubeginn, ist dem Kitsch nicht abgeneigt und lässt dem Cast Raum für Improvisationen. Und es strahlt zum Finale hin endlich jenes Welcoming-Gefühl aus, das dem Eröffnungsstück gänzlich abgeht. Schwer zu sagen, was überraschender ist: Das fast rüde, überselbstbewusste und dramaturgisch fragwürdige „Hier-bin-Ich!“ zu Beginn oder die extra-smoothe Landung. 

Das Eröffnungsapplaus-Barometer im ausverkauften Nürnberger Opernhaus zeigte entsprechend alle denkbaren Ausschläge an. Und auch Siegal hatte sich offenbar zumindest kleidungstechnisch für alle Fälle gewappnet: Rote Wanderstiefel und Lederhosen unten, oben ein dunkles Sakko über dem lässigen Hemd und seine unvermeidliche Kopfbedeckung. In Bayern respektive Franken angekommen, aber ganz bei sich. 

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