„Underdog“ von Alan Lucien Øyen, Tanz: Daria Hlinkina und Ensemble

„Underdog“ von Alan Lucien Øyen, Tanz: Daria Hlinkina und Ensemble 

Aufstand der Unterschätzten

Neuer Mainzer Tanzabend „Underdog“ von Alan Lucien Øyen

Auf Einladung von Honne Dohrmann kreierte Øyen „UNDERDOG“ am Staatstheater Mainz – für das gesamte 22-köpfige Ensemble auf der Großen Opernbühne.

Mainz, 17/06/2025

Ein einziger Arbeitsauftrag hat den norwegischen Choreografen Alan Lucien Øyen schlagartig in der internationalen Tanzszene bekannt gemacht: eine Kreation für das Wuppertaler Tanztheater. Die Kompanie wollte damit die Nach-Pina-Bausch-Ära angemessen eröffnen. „Bon Voyage“ (2018) wünschte der Choreograf in dieser Choreografie, eine gute Reise in die Zukunft. Gute Wünsche für die Tänzer*innen hat der Norweger auch in seinem jüngsten Stück parat. Auf Einladung von Honne Dohrmann kreierte er „UNDERDOG“ am Staatstheater Mainz – für das gesamte 22-köpfige Ensemble auf der Großen Opernbühne. 

Ein Underdog verkörpert für Øyen nicht etwa einen typischen Verlierer im sozialen System, sondern einen, dem ein Überraschungsausweg aus dieser Rolle gelingt. Vielleicht hat er sich von Alicia Keys inspirieren lassen, die in ihrem Song „Underdog“ (2020) die Randfiguren der Gesellschaft beschwört: „You will rise up …“. Überhaupt konnte, ja musste man sich am Ende eines langen Tanzabends die Frage stellen, ob wir nicht alle ein bisschen Underdog sind? Dafür hat Øyen ganz viel Belege gesammelt und im Teamwork mit dem Ensemble in getanzte Bilder umgemünzt. Die Gleichwertigkeit von Text und Tanz ist das Besondere an der Arbeitsweise des Norwegers. Er ist als Sohn eines Kostümbildners sozusagen im Theater aufgewachsen, und er hat sich das künstlerische Team für diese Produktion entsprechend anspruchsvoll zusammengestellt. 

In der Originalkomposition von Gunnar Innvær klingen so viele Zitate und Anspielungen an, dass die Musik allen im Publikum irgendwie bekannt vorkommt, um gleich wieder mit überraschenden Brüchen dagegenzuhalten. Auch Kostümbildnerin Anne Sjøgren steckte das ganze Ensemble in elegante Alltagskleidung für jedermann und jede Frau: enge weiße Oberteile und weite schwarze Marlene-Hosen. Für Einzelauftritte gab‘s geometrisch akzentuierten Lagenlook in gedeckten Farben, genderfluid konzipiert. Für die Bühne zeichnete Asmund Færavaag verantwortlich und wartete mit einem effektvollen Gedankenfeuerwerk auf: Im ersten Teil spielten 49 Stühle vor einer strukturierten weißen Wand mit als Stellvertreter für ein gesellschaftliches Spannungsfeld. Nach der Pause dominierte das Spiel mit dem minimalistischen Umriss eines Baumes auf einer hölzernen Zwischenwand, der sich überraschend als Cut-Out herausstellte. Ebenfalls für zahlreiche optische Überraschungseffekte gut war Lichtdesigner Torkel Skjerven, der das Spiel zwischen Sichtbarmachen und Verschwindenlassen auf einer weiten Skala ausreizte.  

Innerer Schweinehund

Bei Alan Lucien Øyen müssen sich die Underdogs nicht nur gegen die gesellschaftlichen Vorurteile auflehnen, sondern auch noch den inneren Schweinehund austricksen. Der Anfang des Stückes markiert eindrucksvoll ein durchgehendes Spannungsfeld des Stücks – der Wunsch nach persönlicher Verwirklichung und Abgrenzung, aber gleichermaßen auch Teilhabe, Zugehörigkeit und Zuwendung. Die Tänzer*innen ziehen auf der großen Bühne ihre individuellen Zufallsspuren, bis sie sich mit unaufdringlicher Selbstverständlichkeit in langer Linie zu einer Formation zusammenfinden – sozusagen von choreografischer Zauberhand. Denn die Organisation der großen Gruppe in überraschendem, kurzzeitigem Zusammenspiel bleibt ein wiederkehrendes Motiv und demonstriert, wie souverän der Norweger mit Bewegung und Raum umgeht.

Texte geben für Alan Øyen den choreografischen Ton an – das heißt, er entwickelt sein Bewegungsmaterial zusammen mit dem Ensemble anhand von Ansagen über persönliche Befindlichkeiten aller Art. Die Ansagen sind fast ausschließlich deutsch – eine Ausnahme in der international aufgestellten Tanzszene und ein Indiz dafür, wie wichtig dem Norweger das genaue Verständnis der Inhalte ist. Denn die Formulierungen sind einerseits persönlich, aber entlarven zugleich tagesaktuelle Floskeln und Klischees. Rund 50 Stunden Videomaterial ist bei dieser Arbeitsweise zusammengekommen; gezeigt werden konnte natürlich nur ein Bruchteil davon. Wenn man an diesem Abend eine leise Kritik äußern möchte, dann die, dass diese Auswahl des Besten zu viel enthält – abzulesen an einer Gesamtdauer von deutlich mehr als zwei Stunden.
In denen passieren etliche hinreißend choreografierte und souverän getanzte Szenen – das tanzmainz-Ensemble wurde vom Publikum der zweiten Vorstellung mit Beifall überschüttet.

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