„Extra Time“ von Pierre Rigal

„Extra Time“ von Pierre Rigal

Händeschütteln geht gar nicht

Es wird wieder getanzt: Zur Premiere „Extra Time“ bei tanzmainz

So stand es nicht auf dem Spielplan. Dafür hätte – kurz nach dem Lockdown – Pierre Rigal’s Stück „Everybody“ Premiere haben sollen. Der französische Choreograf strandete in Mainz, erst freiwillig, später dem Lockdown gehorchend.

Mainz, 15/06/2020

Vor ziemlich genau drei Monaten, am 13. März, wurde der Spielbetrieb in Deutschland eingestellt: Die Fußball-Bundesliga machte den Anfang, die Theater mussten wohl oder übel folgen. Nun spielen sie wieder. Dem Fußball wurden bekanntlich Sonderrechte eingeräumt; was die Theater betrifft, so variieren Zeitplan und Vorgaben für die Wiederaufnahme des Spielbetriebs von einem Bundesland zum anderen. Im Dreiländereck Baden-Württemberg – Hessen – Rheinland-Pfalz lassen sich die unterschiedlichen Lockerungsfahrpläne und die Reaktionen der Theater, speziell der Tanzsparten, derzeit genau beobachten. Hessen hat die Nase vorn – am Staatstheater Darmstadt werden schon wieder Stücke aus dem Repertoire gezeigt, zum Beispiel ein regulärer Tanzabend ohne Corona-Einschränkungen. Wenig geht bislang in Baden-Württemberg; hier dürften 100 Zuschauer*innen kommen. Im Staatstheater Stuttgart haben Schauspiel und Ballettsparte flugs gemeinsam einen geführten Spaziergang für Zuschauer*innen durchs ganze Haus auf die Beine gestellt. Die Tanzsparten in Mannheim und Heidelberg setzen derzeit allerdings noch ausschließlich auf Online-Angebote. In Rheinland-Pfalz sind bis zu 250 Zuschauer*innen erlaubt, aber für das Tanztraining herrschen noch immer Beschränkungen. Trotzdem wartete das Staatstheater Mainz bereits mit einer echten Tanzpremiere auf.

„Extra Time“ von Pierre Rigal ist ein extra Stück, das so nicht auf dem Spielplan stand. Dafür hätte – kurz nach dem Lockdown – Pierre Rigal’s Stück „Everybody“ Premiere haben sollen. Der französische Choreograf strandete in Mainz, erst freiwillig in der Hoffnung auf seine erste Deutschlandpremiere, später dem Lockdown gehorchend. Als die Tänzer*innen endlich aus dem Homeoffice wieder in den Probenraum zurückkehren durften, gab es umfangreiche Beschränkungen und somit keine Chance auf normales Training. Aber die Tanzsparte ist die kreativste, schnellste unter allen Theaterparten: Der Mainzer Tanzchef Honne Dohrmann hat dem französischen Gast angeboten, die Situation zu nutzen und in dieser sechswöchigen „Extra Time“ ein Stück zu entwickeln.

Die Idee liegt nahe, und die leise Befürchtung auch, dass nun landauf-landab erst einmal Corona-Tanzstücke gezeigt werden: lauter Lamentos über Verordnungen und Verunsicherung, Isolation und Einsamkeit. Zum Glück ist Pierre Rigalls Stück kein Klagelied, im Gegenteil. Hier werden 250 (von 940 möglichen) Zuschauer*innen im Großen Haus in eine quietsch-bunten Comic-Welt entführt, wo sich moderne Manga-Prinzessinnen, zeitgenössische Clowns und Marionetten tummeln. Neun Tänzer*innen der Kompanie tanzmainz begegnen sich hier nach den Regeln von Slapstick 3.0. auf versetzten Bühnen-Podesten (Abstandshalter) und mit verpatzter Kommunikation (Kontaktbeschränkung). Die Normalbegegnung – Augenkontakt, Hand ausstrecken, Händeschütteln – funktioniert nicht mehr, weil das jeweilige Gegenüber die Hand nicht rührt. Was fängt man stattdessen mit den eigenen Händen an? Auf gar keinen Fall ins Gesicht fassen!

Bunte geometrische Hängeelemente sorgen für Überraschungen, eine Sonnenscheibe ermöglicht nicht nur Schattenbilder, sondern auch eine veritable Sonnenfinsternis – die Analogie zum Lockdown drängt sich auf.

Pierre Rigal – eine absolute Seltenheit in der Tanzszene – vom Leistungssport geprägter Autodidakt. So animierte er die Darsteller*innen zu individuellen Kunststückchen der wirkungsvollsten Art. Vier kurze solistische Glanznummern sowie je ein berührungsfreies Duo und Trio treiben die Choreografie voran, zum mal anfeuernden, mal eher gemütlich groovenden Soundtrack von Gwen Drapeau. Mit spielerischer Leichtigkeit entwickelt sich das 65-Minuten-Stück, in dem die Tännzer*innen die Mär von mangelnden Trainingsmöglichkeiten genüsslich ad absurdum führen. Einer der Tänzer trägt ein T-Shirt mit Aufdruck: „So Extra!“ - aber ja doch!
 

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