„Der Nussknacker“ von Marco Goecke, Tanz: Sandra Bourdais, Michelangelo Chelucci, Louis Steinmetz

Wie von einem anderen Stern

Marco Goecke nimmt sich in Basel seines „Nussknackers" von 2006 wieder an

Sie bewegen sich anders: Als ständen sie unter Strom, würden von Elektromotoren im Innern getrieben, die manchmal zu spuken beginnen.

Basel, 14/12/2025

Wenn Weihnachten naht, rüsten sich viele Ballettensembles zu einer Premiere von Tschaikowskis „Nussknacker“, so auch in Basel. Die drei langjährigen Ballettchefs und Choreografen Heinz Spoerli, Juri Vamos und Richard Wherlock haben es getan – und jetzt tut es wieder ihr Nachfolger Marco Goecke, seit dieser Spielzeit Direktor beim Ballett Basel. Er choreografiert seinen „Nussknacker“ aus Stuttgart von 2006 für das Basler Ballett neu. 

Das Sinfonieorchester Basel unter Thomas Herzog spielt temporeich, farbig, lustvoll und laut. Es kostet die einzigartige Instrumentation der Stücke mit Glockenspiel-Celesta und schönen Blasinstrumenten-Soli genussvoll aus. Das Ballett dauert nur anderthalb Stunden: Im 1. Akt, bei den Familien-Weihnachten, hat man Tschaikowskis Musik nur wenig gekürzt, im 2. Akt mit den vielen Divertissements dagegen stärker.

Doch die Aufführung beginnt nicht mit dieser wunderbaren Musik, sondern mit Holzgeräuschen: Man glaubt, knarrende Böden, knackende Türen, Holzschlag im Wald, Spechtgeräusche und auch das Zubeißen von Nussknackern zu hören. Dann erst setzt Tschaikowskis Ballettmusik ein.

Ein Tänzer rennt auf die Bühne, hält an mit jähem Stopp, fuchtelt mit den Armen, zittert in den Beinen, stürmt in anderer Richtung weiter. Weitere Tänzer*innen kommen hinzu, bewegen sich im ähnlich aufgeregten, ruckartig wirkenden Stil. Den ganzen Abend lang. Arme und Beine bewegen sich wie losgelöst vom Körper, Hände und Füße machen sich ihrerseits selbständig, Finger flattern, Zehen wackeln. Der Kopf dreht sich vogelartig nach allen Seiten, der Körper biegt sich rückwärts bis zur offenbar nicht vorhandenen Schmerzgrenze. Vieles wirkt improvisiert, aber wenn sich die Tänzer*innen zu Gruppen formieren, bewegen sie sich erstaunlich unisono. Sie tun, als hätten sie von klassischem Ballett nie gehört, doch plötzlich lässt einer eine Klassik-Parodie mit Battements aufblitzen.

Grimassieren, lallen, klagen

Sie tanzen nicht nur, sondern grimassieren, lallen schwer verständliches Zeug, klagen oder freuen sich. Sie wirken wie Wesen von einem anderen Stern. Ihr Körper ist zwar gebaut wie bei allen Menschen, aber sie bewegen sich anders: Als ständen sie unter Strom, würden von Elektromotoren im Innern getrieben, die manchmal zu spuken beginnen. Gleichzeitig sind ihre Körper unendlich biegsam und scheinen mit Rundum-Gelenken versehen. Man kann diese Tänzer*innen mit ihrer Kraft, Ausdauer und Skurrilität nur bewundern. Und ihren Choeografen Marco Goecke auch. 

Komplizierter ist es mit der Handlung. Das Publikum kann ihr nur folgen, wenn es die Inhaltsangabe im Programm gelesen hat. Diese beruft sich sowohl auf das schlicht gestrickte Libretto von Marius Petipa als auch auf die vieldeutig-romantische Geschichte „Nussknacker und Mäusekönig“ von E. T. A. Hoffmann. Die Basler Dramaturgin Lucie Machan interpretiert das Märchen im Programmheft auf ebenso tief- wie feinsinnige Art, schreibt über die Verletzlichkeit des Menschen, die Verbindung von Unheimlichem und Wunderbarem, die innere Wahrheit hinter den sichtbaren Dingen. Diese Interpretation geht aber an der doch eher robusten Tanzaufführung vorbei.

Es ist auch nicht einfach, die namentlich genannten Ballettfiguren zu erkennen, weil viele ähnlich gekleidet sind und im gleichen Stil tanzen. Die Rollen von Fritz (Louis Steinmetz), Marie (Sandra Bourdais) und vor allem von Pate Drosselmeier (Michelangelo Chelucci) sind zwar auszumachen, aber wer ist die Schneekönigin, die Zuckerfee, der „neue Nussknacker“ neben dem „alten Nussknacker“? Hinter diesem "Mangel" steckt zugleich eine Stärke der Choreografie: Viele der 28 Mitwirkenden haben einen Soloauftritt, auch in Nebenrollen – sie durften ihn in Zusammenarbeit mit Goecke erarbeiten. Mitsprache, Work in Progress.

Keine Kontroversen

Ein wenig Weihnachtsstimmung verströmt auch die Basler „Nussknacker“-Uraufführung, obwohl besonders schöne Musikszenen wie die mit dem nächtlich wachsenden Tannenbaum nicht weiter hervorgehoben werden. Am Anfang des 2. Aktes blasen zwei Trompeter auf einer Empore das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“. Weihnachtlich auch, wenn auf der Rückwand der schwarz ausgeschlagenen Bühne zuerst goldene Sterne, dann silberweiße Schneeflocken zu tanzen beginnen – zuletzt strömen sie bis auf die Bühne hinunter, wo sie erlöschen (Bühne und Kostüme von Michaela Springer).

Gegen Schluss der Aufführung erscheint im Hintergrund ein riesiger Mäusekönig. Er scheint ruhig und friedlich gestimmt. Man denkt vielleicht an den Satz „Die Geschichte ist aus, dort läuft eine Maus ...“ am Ende von Grimm-Märchen. Aber „Nussknacker und Mäusekönig“ stammt ja nicht von Grimm, sondern ist ein Kunstmärchen von E. T. A. Hoffmann.

Wer erwartet hatte, Marco Goeckes eigensinnige „Nussknacker“-Uraufführung  werde bei der Premiere kontrovers aufgenommen, irrte sich: Das Publikum spendete dem Ballett Basel und seinem Chef riesigen Applaus. 

 

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