Werk ohne Autor

Über die Videoausstrahlung von Marco Goeckes Tanzstück „In the Dutch Mountains” mit dem fantastischen Nederlands Dans Theater

Fast siebzig Minuten lang: eine intensive, unterschiedlich getimte Abfolge von geschliffenen, schlitternden, festen Soli, Duetten und Ensembleszenen, die letztlich gestisch, mimisch und lautmalerisch ausdrucksstark ein großes Drama beschreiben.

Den Haag, 03/03/2023

In the Dutch Mountains - Marco Goecke (NDT 1)

Jede(r) nimmt unterschiedlich wahr. Und jene ZuschauerInnen, die vergangenes Wochenende für 15 Euro die mitgefilmte Videofassung „In the Dutch Mountains“ sahen, haben, gut möglich, das Stück anders gelesen, als jene, die live im Amare-Theater des Nederlands Dans Theaters saßen und sitzen. Die Videofassung zeigt sowohl die gesamte Bühne als auch Closeups.

Auch ich wollte zur Premiere am 9. Februar nach Den Haag, hatte schon Karten, wollte gleich für tanznetz schreiben, musste aber absagen. Ich war neugierig gewesen auf ein abendfüllendes Werk von Marco Goecke für das NDT, auch weil eine Wiener Solotänzerin des Staatsballetts derzeit dort tanzt. Das, was ich auf meinem doch großen Bildschirm sehen konnte, hat mich sehr angerührt, ergriffen zurückgelassen. Aus der jüngsten Zeit kenne ich von diesem Choreografen die Uraufführung „Fly Paper Bird“, die er für das Wiener Staatsballett im Herbst 2021 machte und die nicht nur wegen seiner charakteristischen Arm-Gestik anzog, sondern auch faszinierte wegen seines klugen Umgangs mit Musik von Gustav Mahler als narrativ erscheinender Komponente aus einer Welt von gestern. (Wieder am 3., 10. und 23. April an der Wiener Staatsoper.)

„In the Dutch mountains“, für 27 fantastisch disponierte Tänzer*innen, anfangs in dunklen Hosen und hellen Oberteilen (Ausstattung von Nadja Kadel, die auch für Dramaturgie zeichnet und Goecke), ist, fast siebzig Minuten lang, eine intensive, unterschiedlich getimte Abfolge von geschliffenen, schlitternden, festen Soli, Duetten und Ensembleszenen, die letztlich gestisch, mimisch und lautmalerisch ausdrucksstark ein großes Drama beschreiben: Der Mensch, der nicht aus seiner Haut herauskann. Sinnlos einen Sinn zu finden. Der doch Alles versucht, Vieles vermag und sich in immer kleinteiligeren in aberwitziger Rasanz ausgeführten Aktionen seinem Selbst, seiner Beschränktheit, seiner Endlichkeit, seiner Ausweglosigkeit nähert. Diesen choreografischen Facettenreichtum solch kommunikativen Handelns möchte man gerne beschreiben können, die immer neuen Kulminationen des komplett verrückten, banalen Daseins. Das soll Alles gewesen sein? Da muss es laut aus einem schreien, da muss sich das Gesicht verziehen, und die ganze beredte Körperlichkeit dieser immer wieder wie ferngesteuert anmutenden unterschiedlichen Charaktere sich Slapstick artig verzerren. Da ist die Beckettsche Groteske samt des In-sich-Verharrens nicht weit. Es ist ein abgründiger fataler und traurig machender makaberer Zauber, der im Verlauf des Abends Menschen mit weißer Halskrause zeigt, einen davon fast nackt auf einem orangefarbenen Fahrzeug die Bühne mehrmals langsam queren lässt. Wie ein Alter Ego, das den Zweifelnden und Verzweifelten in seiner Dualität höhnisch angrinst.

Anfangs rauscht das Meer, hoch ist der Wellengang vor Scheveningen, die Gezeiten wirklich fast wie Berge (Videodesign von Ennya Larmit), eine Möwe fliegt vorbei. „In the Dutch Mountains“ der niederländischen Band The Nits ertönt. Es folgen sorgsam gesetzte, live unter Martin Georgiev musizierte Teile aus Bela Bartóks Tanzsuite BB 86 und seinem Konzert für Orchester BB 123 sowie aus Johannes Brahms‘ 3. Symphonie op.90, welche die dicht gewobenen szenischen Zustands-Studien forttragen in dieser vermeintlich ewigen Natur. Später am Abend hockt ein Tänzer als Betrachter versunken auf einer hohen dunklen Leiter und schaut in die endlose Ferne.

Im digitalen Programmheft wird der niederländische Autor Willem Frederik Hermans mit seinem Roman „Nie mehr schlafen“ (1966) zitiert, der offenbar vom Streben nach wissenschaftlicher Beweisführung und menschlichem „kläglichem Scheitern“ handelt. Auf der Bühne ringt noch ein Mann im Anzug mit sich. Dann schnelles Dunkel. Aus.

„Werk ohne Autor“ ist ein herausragender Film von Florian Henckel von Donnersmark aber auch eine spannende Abhandlung der Autorin Elea Brandt über die unlösbare Verknüpfung von Werk und Autor als fehlbarem Menschen. Die Idee, Tanzwerke aus Spielplänen wegen privaten Schuldverhaltens des Autors zu canceln hat mit der Vorstellung von Tilgung und Verbannung zu tun. Dass strafbare Taten Folgen haben und Buße verlangen ist klar. Aber um Auslöschung des Werks kann es nicht gehen.

 

Kommentare


Liebe Frau Hümpel, 

Über die neu erschienen Artikeln in Tanznetz freue ich mich immer von Neuem.

 

Ich freue mich auch, dass Sie, trotz wirklich nicht hinnehmbaren Vorfall in Hannover,  über Göckes Kunst weiterhin und positiv berichten. 

 

Ich finde wichtig, richtige Kunst anzuerkennen und zu schätzen. 

Kunst ist und soll neutral bleiben!

 

Danke für die immer guten Berichterstattungen.

 

Mit freundlichen Grüßen 

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