Leitungswechsel
Katharina Christl übernimmt Leitung der Palucca Hochschule Dresden
In welche Richtung man angesichts des Titels „Wings and Feathers“ assoziieren kann, ist im Fall des neuen Ballettabends an der Semperoper schwer zu entscheiden. Hier gibt’s weder Flügel noch Federn. In der Vorankündigung heißt es nur, die Worte stammten aus einem Gedicht des persischen Mystikers Rumi. Akram Khan habe sich davon für seine Arbeit „Vertical Road“ (Uraufführung 2010) inspirieren lassen. Auf Stephanie Lakes „Colossus“ (Uraufführung 2018) bezogen ist die Rede davon, dass die beteiligten Studierenden der Palucca Hochschule für Tanz hier „flügge“ würden.
Das klingt etwas konstruiert, funktioniert in der Kombination der beiden Stücke aber erstaunlich gut. Beide befragen die Inbeziehungsetzung des Individuums zu einem Gegenüber. Lake tut das in Relation zu einer größeren Masse und stellt ganze 52 Tänzer*innen auf die Bühne. Khan wiederum, wie man es von ihm kennt, vertieft sich in die Emotionen ganz persönlicher Sehnsüchte.
Stephanie Lake ist seit dieser Spielzeit Artist in Residence an der Semperoper und blickt mit ihrem „Colossus“ in die Strukturen und das Funktionieren einer Gemeinschaft. Hin und her kippt diese „kolossale“ Masse zwischen gleichgeschalteter Mechanik unter der Führung einer einzelnen Person und flirrender Lebendigkeit, die allen Beteiligten eigenen Raum zugesteht.
Ein Verschwinden in der Masse ist möglich, da alle Tänzer*innen schwarze Kostüme tragen, auf den ersten Blick einheitlich mit ärmellosen Oberteilen und schlichten Hosen. Erst ein genauerer Blick zeigt, dass jedes Oberteil individuell anders ist; die Länge der Hosen und auch ihr Schnitt unterscheidet sich. Der Kontrast auf der weißen Bühne ermöglicht dabei klare, teils strenge Bilder.
Aus Mechanik wird Freiheit
Dass eine solche schwarze Masse in ihrer Geschlossenheit sehr schnell bedrohlich wirken kann, unterstreichen auch die wummernden Sounds von Robin Fox. Da wird die Gruppe in zwei Lager gespalten wie ein geteiltes Meer. Dispute lassen sich so ganz einfach vom Zaun brechen. Also doch besser ohne Führung an der Spitze? Wenn sich die Strukturen immer wieder auflösen und aus der Mechanik freier Tanz wird, Bewegung, die atmet, fließt alles in Lebendigkeit. Reibungen bleiben aber trotzdem nicht aus. Da wird ein Einzelner sogar aus der Gruppe ausgestoßen, findet aber wieder zurück. Unzählige Duette mit immer weiter wechselnden Partner*innen unterstreichen die Fließbewegung und bringen gleichzeitig die Möglichkeit von Konflikten mit, für deren Austragung der nötige Raum da ist.
Es ist einfach, in „Colossus“ einen Demokratiediskurs zu lesen. Was bedeuten „stabile Strukturen“? Was für eine Gesellschaft wünschen wir uns? Was ist Macht? Eine Antwort liegt sichtbar in der Mitte: Es sind die persönlichen Begegnungen, die mit Fokus auf das Kleine gleichzeitig eine Orientierung im größeren Ganzen ermöglichen.
Deutlich stärker ins Innere gekehrt gestaltet Akram Khan sein „Vertical Road“. Dabei erstaunt es fast, dass die Semperoper von ihm bislang noch keine Arbeit im Repertoire hatte. Für Neulinge des Khan’schen Universums ist das ein wunderbarer Einstieg. Bekanntlich geht Khan mit seinen sensiblen Erzählungen immer sehr tief in die Gefühlswelt seiner Protagonist*innen. Hier ist es Jón Vallejo in der Rolle des Reisenden, der als Solist wahrscheinlich in einer Arbeit noch nie so wenig getanzt hat.
Er ist ein Fragender, ein Beobachtender, ein Suchender, der voller Zweifel erscheint. Er irrt mit unschlüssiger Geste über die Bühne und sucht unablässig die Annäherung an eine Statue (Sarika Emi), die anfangs leblos erscheint, später aber, wie elf weitere Statuen, ein Eigenleben entwickelt. Ihre Bestimmung liegt jedoch innerhalb der Gruppe, nicht in einem Miteinander mit dem Reisender. Und der, wiederum, ist nicht Teil dieser Gemeinschaft. Das wird so bleiben. Bis zum Schluss. Die Verzweiflung, die diese anhaltende Distanz in dem Reisenden nährt, kann einem als Zuschauer*in das Herz brechen.
Und über allem liegt ein Rauschen wie von Wind. Die Statuen sind voller Staub. In der Unmöglichkeit der Annährung werden zwei voneinander getrennte Welten sichtbar. Was real ist, bleibt offen. Fast durchweg andauernde, dumpf hämmernde Sounds (Nitin Sawhney, Aditya Prakash) dringen bis tief in den Magen. Und so richtig tief, das ist eben Akram Khan. Er schafft hier eine Jenseitigkeit, die keine Grenzen kennt. Ihre inneren Regeln sind nicht für den Reisenden Vallejo gemacht. Ankommen kann er nicht. Er bleibt mit leeren Händen zurück.
Damit vereint „Wings und Feathers“ zwei choreografische Handschriften und konzeptionelle Ansätze, die gleichberechtigt nebeneinander gestellt ein komplexes Bild des Menschen zeigen.
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