„Turning of Bones“ von Akram Khan, Tanz: Giovanni Visone, Stefano Gallelli, Tuti Cedeno

„Turning of Bones“ von Akram Khan, Tanz: Gauthier Dance

Ritual der Erneuerung

Gauthier Dance zeigt „Turning of Bones“

Erfolgreiche Eröffnung des „Colours“-Festivals im Theaterhaus Stuttgart mit einer Weltpremiere von Akram Khan

Stuttgart, 01/07/2025

Dem Tausendsassa der Tanzwelt ist mal wieder ein Husarenstückchen gelungen: Eric Gauthier, Chef von Gauthier Dance, konnte Akram Khan dafür gewinnen, ein Stück eigens für seine 16-köpfige Kompanie zu kreieren. Das hat es so in Deutschland noch nie gegeben. Bisher kam Khan immer mit seiner eigenen Tanzgruppe (z.B. mit „Outwitting the Devil“ beim „Colours“-Festival 2019), für ein deutsches Ensemble hatte er bisher noch nie ein neues Stück geschaffen. Auch international ist er sehr sparsam bei der Vergabe seiner Werke an andere. 

Das kommt nicht von ungefähr: Zu schwierig und ungewohnt gestaltet sich für die meisten sein anspruchsvoller Tanzstil, der auf indischen Elementen beruht, vor allem dem Kathak. Weshalb Khan mit seinen Probenleiter n Angela Towler und Mavin Khoo dann auch insgesamt sechs Monate lang, verteilt über drei Jahre, mit Gauthier Dance „Turning of Bones“ erarbeitete, u. a. in einer zweiwöchigen Klausur bei der Orsolina28 Art Foundation in Italien. Dass Khan mit Gauthier Dance die richtige Wahl getroffen hat, wurde gleich bei den ersten drei Aufführungen anlässlich der Eröffnung des „Colours“-Festivals Ende Juni augenfällig: Die 16 Tänzer*innen von Gauthier Dance übertrafen sich gut 70 Minuten lang selbst – tänzerisch wie stilistisch wie darstellerisch. Und bewiesen damit einmal mehr, dass Gauthier Dance inzwischen zur Weltklasse des Tanzes gehört. 

Altes neu geordnet

„Turning of Bones“ beruht auf einem alten Brauch aus Madagaskar, demgemäß die Knochen von Verstorbenen alle paar Jahre ausgegraben und – mit neuen Tüchern umhüllt – bei einem Tanzfest wieder der Erde anvertraut werden. Auch Akram Khan hat einige „alte Knochen“ aus fünf früheren Werken ausgegraben, geputzt und neu gekleidet, Teile aus „Desh“ (2011), „Mud of Sorrow“ (2012), „iTMOi“ (2013), „Jungle Book reimagined“ (2022) und „Insirgents“ (2024). Wer diese Stücke gesehen hat, wird einzelne Bewegungsmuster in „Turning of Bones“ durchaus wiedererkennen, aber sie sind so raffiniert versteckt und durchgeschüttelt, dass alles doch völlig neu aussieht.

Akram Khan erzählt hier die Geschichte einer jungen Frau (Tuti Cedeno), in deren Stamm ihr Vater der Anführer ist (Giovanni Visone). Er will sie zu seiner Nachfolgerin machen und ihr das heilige Wissen der Ahnen anvertrauen – materialisiert in einem großen grauen Kieselstein. Aber die Frau hat sich in einen Fremden verliebt (Stefano Gallelli), dessen Familie bei einem Kampf zwischen seinem und ihrem Stamm getötet wurde, weshalb man ihm dort feindlich begegnet. Schon in den ersten Minuten hört man aus dem Off eine Männerstimme sagen: „I must die, you must live“ – und so ist der Ausgang schon vorgegeben. 

Die junge Frau ist hin- und hergerissen zwischen der Liebe einerseits und der Treue zu ihrem Stamm wie auch zu ihrem Vater andererseits, der von ihr verlangt, den Geliebten zu töten. Und so entwickelt sich auf dem mit einem raumhohen, silbrig-metallisch glänzenden Vorhang höhlenartig abgegrenzten Bühnenrund in der T1 des Theaterhauses ein atemberaubendes kämpferisches Geschehen. Das Paar ist anfangs wie miteinander verwachsen, löst sich nur langsam aus seiner Symbiose. Immer wieder wird der Mann von dem Vater der Frau gedemütigt; der Stamm, von Gudrun Schretzmeier in an Terrakotta-Krieger erinnernde grün-blaue Gewänder gekleidet, feindet ihn ebenso an, in wilden, rhythmisch stampfenden Tänzen. Es ist eine einzige Machtdemonstration – alle gegen einen, bis die junge Frau, aufgepeitscht durch fast trancehafte Tänze, den Geliebten mit dem Stein der heiligen Ahnen-Weisheit tötet. 

Und doch unterwirft sie sich nicht dem Vater, löst sich aus dem Verband und macht sich auf die Suche nach dem Geliebten. Hinter dem transparenten Silbervorhang, der nun von unten orangefarben erleuchtet ist, begegnet er ihr noch einmal, beider Hände legen sich über dem Vorhang aneinander, bis der Mann im Dunkel verschwindet und sie alleine zurückbleibt. 

Die Menschlichkeit wiederfinden 

„Wir brauchen neue Rituale“, sagte Akram Khan in einem Interview mit SWR Kultur. „Wir haben uns als Menschen überhaupt nicht weiterentwickelt, höchstens technisch. Wir wiederholen uns: Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg, Kriege davor, Kriege jetzt. Wir haben unseren Sinn für Menschlichkeit verloren, und dabei halten wir für selbstverständlich, dass wir von alleine menschlich sind. Obwohl im Tanz alles nach außen gekehrt ist, interessiert mich die innere Bewegung am meisten, die im Verborgenen.“ 

Und so wird „Turning of Bones“ trotz des archaisch anmutenden Opfers zu einem Plädoyer für mehr Menschlichkeit, zu einem Ritual der Erneuerung – zu einer nicht minder beeindruckenden Klangcollage von Aditya Prakash ungemein kraftvoll und dynamisch getanzt von den 16 phänomenalen Tänzer*innen von Gauthier Dance. Sie haben sich den Stil Akram Khans buchstäblich einverleibt, sie wurden zu seinem Instrument, auf dem er seine Kunst eindrucksvoll entfalten konnte. 

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