Viele Farben hat der Tanz
Eindrücke vom internationalen Festival Colours am Stuttgarter Theaterhaus
25.000 Stück – Die Organisatoren der diesjährigen Ausgabe des Colours International Dance Festival in Stuttgart haben die Hitze des Sommers in ihre Planung einbezogen und genau so viele Fächer herstellen lassen. Mit dem Ergebnis, dass man über mehr als zwei Wochen hinweg im gesamten Stadtraum immer wieder einen der bunt bedruckten „Lufterfrischer“ ausmachen konnte. So einfach kann erfolgreiches Marketing sein. Und mehr als 17.000 Besucher mit einer Auslastung von 92 Prozent allein für das Bühnenprogramm, das sind Zahlen, die ganz deutlich für den Tanz sprechen. Natürlich kommt das nicht von ungefähr; die Qualität der eingeladenen Arbeiten war auch in diesem Jahr enorm hoch.
Beispielhaft dafür steht auch Shahar Binyamini. 2022 war er der erste Resident Choreographer des Festivals. Mit „New Earth“ zeigt er die aus dieser Residenz entstandenen Ergebnisse. Und was für welche! Trotz der starken Einflüsse durch Ohad Naharin und Sharon Eyal hat Binyamini zu einer ganz eigenen Formensprache gefunden, die eine individuelle Ästhetik atmet, ohne seine Zeit bei Batsheva zu leugnen.
Das beginnt mit einem metallischen Klingeln im dunklen Bühnenraum, als spiele jemand gedankenverloren mit Alltagsgegenständen, bis das Klingeln ein Echo bekommt und übergeht in orientalisch anmutende Musik. Der Tanzboden ist mit dunkelbrauner Erde bedeckt. Eine Tänzerin läuft geschmeidig elegant darüber und hinterlässt darin Spuren, Linien, die in ihrem transparenten, enganliegenden Kostüm eine Entsprechung finden. Es sind lange, farbige Haarsträhnen, die sich die Tänzer*innen vor der Show jeweils ganz nach Lust und Laune zwischen Haut und Kostüm platzieren. Dadurch entstehen Linien und Muster, die in ihrer Organik irgendwo zwischen Venen, Flussläufen und Wurzeln liegen. Es ist das Feld der Biologie, das sich als thematische Grundlage durch „New Earth“ zieht.
Bewegungstechnik "Creature"
Die sieben Tänzer*innen sind auf diesem Boden wie mit ihm verwachsen. Die braune Erde ist Teil ihrer Existenz, ihrer Selbst. In tiefer Sinnlichkeit bewegen sie sich anmutig über diesen Boden, irgendwie unmenschlich. „Creature“ ist der Name der Bewegungstechnik, die Binyamini entwickelt hat, und dank derer sich seine Tänzer*innen mit ihrem Urwesen, ihrer inneren Herkunft verbinden können. Oft ist dabei von einer „animalischen Seite“ die Rede. Immer wieder auch scheinen die Tänzer*innen ruckartige Bewegungen zu machen, der Blick ohne Fokus, als wären sie selbst eine Art Tier. Mal flitzen sie wie scheue Insekten aus dem Licht ins Dunkle, mal bewegen sie sich gravitätisch im Moment, ganz in der eigenen Existenz. Man meint dabei, ein Tier wiederzuerkennen. Genaueres bleibt aber offen. Klar ist aber: Binyamini imitiert keine Tiere.
Die ästhetische Geschmeidigkeit der ausgezeichneten Tänzer*innen mit beeindruckender Kongenialität ist ein Hochgenuss. Das Klappern von Trommeln, das stellenweise wie eine fremde Sprache daherkommt, greifen sie mühelos auf, weil sie ganz in dem Element sind, in das sie gehören.
Nach einem Duo von unglaublicher Intensität und Würde finden sich die beiden Tänzer*innen umgeben von farbigen Wesen, deren Art oder Zweck frei bleibt. Dafür ziehen sich die Tänzer*innen einfarbige Zentais über die bisherigen Kostüme, rot, blau, grün. In den Händen tragen sie einzelne große Blüten, die auf dem dunklen Boden einen fast schon neonartigen Kontrast schaffen. Vielleicht symbolische Darstellungen der Elemente, vielleicht mehrteilige Allegorien der Natur, sie entpuppen sich als Botenstoffe, die in den bis dato ruhigen Gleichklang einen klaren Schub bringen. Als verfolgte man eine plötzlich in Gang gesetzte Entwicklung unter dem Mikroskop, brechen sie die Ästhetik in den Bewegungen auf und setzen eine Entwicklung in Gang, deren Ausgang unklar ist. Technoide Klänge und harte Bässe drängen vorwärts und deuten auf das, was kommen wird. Biologie macht Leben.
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