„Push and Pull“ von Lai Hung-Chun (Tanja Liedtke Award und Publikumspreis)

Beziehungskisten

39. Internationaler Wettbewerb für Choreographie Hannover 2025

Die Bandbreite ist groß, aber bei der Preisvergabe könnten die Tanzchefs mutiger sein.

Hannover, 23/06/2025

Knapp 400 Bewerbungen aus 56 Ländern hatte die Vorjury des Internationalen Wettbewerbs für Choreografie in Hannover für die 39. Ausgabe zu sichten. Der künstlerische Leiter Gregor Zöllig vom Staatstheater Braunschweig und seine freien Kollegen Sofia Nappi und Johannes Wieland wählten 17 aus, die sich in zwei Vorrunden im Theater am Aegi präsentierten. Wieder mal nahmen die meisten jungen Choreograf*innen Beziehungskisten zum Thema. Liegt nahe, da gerade der frei arbeitende Nachwuchs selten mehr als zwei Tanzende einsetzen kann. Und doch ist es merkwürdig, dass drängende Fragen der Zeit wie Klimawandel und Social-Media-Macht so gar nicht Thema sind.

Natürlich lässt sich auch den Paarbeziehungen oft ein weiterführender Sinn unterlegen. Das spannende Ringen, das Justin de Jager und Sem Deliveyne unter dem Titel „Brothers“ choreografiert haben und selbst performten, ist nicht nur eine atemberaubende Bewegungsstudie mit den Mitteln des Threading, sondern mag über den Brüderkontext hinaus auch an politische Bruderkonflikte denken lassen. Das aus dem Breaking stammende Threading, bei dem Körperteile durch vom Körper gebildete Ösen gesteckt werden, führten die beiden in einer krassen Verknotung vor, die sich aber verändern lässt. Selbst getrennt bleibt noch jeder in sich selbst verknotet. Später taumeln sie Kopf an Kopf über die Bühne, verwickeln sich erneut, bis sich der Knoten zur freien Umarmung transformiert. Nicht mehr Zwangs-, sondern Wahlverwandte.

„Brothers“ wird zum Gastspiel ans Tanzlabor Roxy Ulm eingeladen. Man hätte dem Choreografenpaar einen der Produktionspreise des Wettbewerbs gewünscht, die eine Einladung zu einer neuen Arbeit mit der vergebenden Compagnie bedeuten. Mannheim, Chemnitz, Halberstadt, Linz, Graz, Lüneburg und das Gärtnerplatztheater München vergeben sie. Wie die Tanzenden dort mit dem Threading klarkommen, wäre sicher eine Herausforderung, aber auch eine andere Farbe in der gängigen Ballettästhetik.

Streit zwischen Mutter und Sohn

Immerhin entschieden sich Mannheim und München für „Rakke“, das Louis Thuriot und seine Mutter Patricia George über das Thema Streit in der Familie entworfen haben. In bester Tanztheatermanier brüllen sich die beiden erstmal tüchtig an. Sie spinnt sich dann am Akkordeon in ihre traurige Melodie ein, während er mit verlegen enggeführten Beinen dasteht, in ihre Richtung rollt und robbt, sich widerwillig auf ihre Melodie einlässt, bis sie am Ende Arm um Arm geschlungen auf der Stelle hopsen. Ein schönes kleines Stück Theater. 

Immerhin den Anspruch, auch den sozialen Körper der Gesellschaft zu meinen, vertraten Anna Beghelli und Maé Nayrolles in ihrem selbst getanzten Duo „7AM“, sozusagen eine Aufblende in den 7-Uhr-morgens-Berufsverkehr, nicht leicht, zu zweien auszudrücken. Auch hier wäre ein Produktionspreis gut gewesen, um das Thema mit größerer Gruppe mehr auszuspielen. Sie wurden zu einem Gastspiel in die Eisfabrik Hannover eingeladen. Das Setting ist stark: Zwei Frauen, schwarz vermummt und gesichtslos, fallen nach crashiger Geräuschkulisse in die tackernden Bewegungen des Arbeitsalltags, die zu geschmeidigem Funktionalismus gedeihen. So hat einen die digitale Machtindustrie gern. Hier hätte es noch mehr Ausarbeitung bedurft, bevor die Damen sehr richtig den Dienst quittieren, ihre Vermummung ablegen und mit nacktem Rücken und freischwingenden Haaren entschwinden. 

Die von der Jury fürs Finale kuratierte Auswahl bot stilistisch eine große Bandbreite. Das ist gut. Eher im Mainstream des athletischen Ästhetizismus funktionierten die drei perfekt Tanzenden in Lilit Hakobyans „Luck“. Da fehlte eben nur die Stellungnahme, ob es gut ist, wenn alles immer weiterläuft. Und im Tanztheater war man mit Zach Enquists „All Honesty Aside“, einer Sprech-Szene am Tisch. Er füllt was aus, plötzlich: „Hörst du mir überhaupt zu?“ Dann aneinander vorbeiführende Dialoge, Eingeständnisse ans Publikum, woraus sich eine ähnlich strukturierte Tanzszene ergibt: Während er noch an ihren Beinen hängt, ist sie mit dem Gesichtsausdruck ganz woanders. Hat Witz, aber gar nicht so viel Tanz. Immerhin vergab die Jury aus Adolphe Binder (Basel), Katrin Hall (Göteborg), Roni Haver (Club Guy & Roni), Christiane Winter (ehemals Tanztheater international Hannover), Christian Blossfeld (Hannover) und Zöllig dieser ungewöhnlichen Produktion den zweiten Preis, den mit 5.000 Euro dotierten Ruth-Schwieger-Award.

Dafür ging der erste Preis, der mit 25.000 Euro dotierte Tanja-Liedtke-Award, an eher Gewohntes: „Push and Pull“ von Lai Hung-Chung zeigt eben dieses Wechselspiel aus Hingabe und Widerstand. Beginnend mit der ausgestreckten Hand der Liegenden, die, kurz bevor er sie ergreift, wieder zurückschnellt. Später schleudert er sie am Bein knapp über dem Boden um sich, eine viel zu lang ausgespielte Figur aus Hingabe im zumindest physikalischen, aber nicht sozialen Gleichgewicht. Als er am Ende stürzt, hält sie ihn am Bein fest, Verbindung hält. Dafür gab es auch den mit 1.000 Euro dotierten Publikumspreis. 

Hung-Chung gewann damit zum dritten Mal einen Preis in Hannover, seine Bewegungssprache lässt sich sicher gut an anderen Compagnien integrieren, was wohl ein Kriterium der Jury ist. Gälte es, innovative Künstler*innen zu ermutigen, hätten sich andere Optionen geboten. Sie waren in Hannover zu sehen. Die anwesenden Compagnieleitungen bräuchten sich bloß zu trauen, zuzugreifen.

                   

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