Jedes Jahr das gleiche Ritual

Mein Kampnagel Sommerfestival 2012

Hamburg, 16/08/2012

Es ist jedes Jahr das gleiche Ritual: Ich warte neugierig auf die Verkündung des Programms des Internationalen Sommerfestivals auf Kampnagel. Wie immer erhalte ich einige Wochen vor Beginn des Festivals einen großen Umschlag und lasse erst einmal alles stehen und liegen, um gleich nachzuschauen, was in diesem Jahr geboten wird. Ich werde nicht enttäuscht! Für den Tanz gilt in diesem Jahr eindeutig das Motto „Qualität vor Quantität“. Es gab Festivals mit mehr Tanzvorstellungen, ich freue ich mich jedoch, als ich die Namen von drei spannenden Choreografenpersönlichkeiten entdecke. Mit Boris Charmatz, Anne Teresa de Keersmaeker und Michéle Anne de Mey & Jaco Van Dormael wurde eine spannende Auswahl zeitgenössischer Choroegrafen getroffen.

Eröffnet wurde das Festival von Boris Chamatz, der bereits im letzten Jahr eingeladen war. Ich erinnere mich an sehr kontrovers geführte Diskussionen in meinem Pilatesstudio über das damals aufgeführte Stück „ENFANT“. Der Eröffnungsabend fällt leider für mich flach, denn die Arbeit ruft und so treffe ich mich am Freitag 10.8. gegen 20.30h mit einer meiner Pilatistas, Annette, auf Kampnagel. Und hier dann das nächste Ritual! Die Frage der Gestaltung des Außenbereichs will geklärt werden! Für alle Leser, die das Festival nicht kennen oder die Blogs der letzten Jahre nicht verfolgt haben - diese Frage hat mittlerweile fast einen Kultstatus. Der Bodenbelag des Außenbereichs wechselt in jedem Jahr und so mancher Belag, sei es nun Rindenmulch oder blaue geschliffene Glassteine, sorgte schon für wilde Diskussionen und genaue Überlegungen bei der Schuhauswahl. Also ging es gleich raus zum Testlauf auf einem weichen, schwarzen Material - geschredderte Autositzbezüge, wie ich später erfahre.

Dort treffen wir gleich einige Freunde, verwickeln uns angeregt ins Gespräch, flanieren etwas auf dem Gelände herum, schauen den Schaukelnden zu (immer wieder schön dieses melancholisch anmutende Bild der an langen Seilen an den Kränen befestigten Schaukeln) und eilen dann in die K6 um uns „Levée des conflits“ (Die Aufhebung von Konflikten) von Boris Charmatz anzuschauen.

Eine Tänzerin betritt aus dem Publikum heraus die Bühne, setzt sich auf den Boden und beginnt kreisförmig den Boden zu wischen, als erste von 25 Bewegungen die die Basis dieses choreografischen Konstrukts bilden. Einem Konstrukt, das eine ungeheure Konzentration eines jeden Akteurs erfordert. Nach und nach entern 24 Tänzer die Bühne, jeder unweigerlich mit seinem Vorgänger verbunden, bekommt er doch von ihm den Einsatz für die nächste Sequenz. Jeder Tänzer scheint für sich zu agieren und doch sind die Tänzer auf einer ganz subtilen und doch greifbaren Ebene miteinander verbunden. Immer „a l‘ecoute“, in der Aufmerksamkeit zu seinem Bühnenpartner zu sein, gleichzeitig in sich selbst zu sein, das ist große Kunst, spannend! Das Energielevel ist hoch und es ergeben sich immer wieder scheinbar zufällige Kettenreaktionen und die Klangcollagen von Olivier Renouf unterstützen die verschiedenen Phasen dieses Stückes. Sie wecken immer wieder den Geist des Betrachters auf und holen diesen aus zu meditativen Schwingungen heraus. Fast könnte man in manchen Momenten in Trance fallen, doch dann durchdringt einen immer wieder diese Lust sich einen kleinen Ausschnitt dieses menschlichen Ameisenhaufens auszusuchen und zu sezieren.

Es gab für mich durchaus Längen in diesem Stück und mehrere Mal dachte ich bereits, dass jetzt das Ende kommen würde. Mit einigen Tagen Abstand und einigen Gesprächen und Hintergrundinformationen über den Aufbau des Stückes, bin ich jedoch begeistert von der Stringenz und Konsequenz, mit der diese Recherche umgesetzt wurde und würde es fürchterlich gerne noch Mal sehen. Begeistert haben mich vor allem auch die Darsteller, die mit einer unglaublichen Kraft und Energie agieren. Manchmal muss man einfach auch die frischen Eindrücke ein wenig wirken lassen, diese Erfahrung habt Ihr bestimmt auch schon einmal gemacht, oder? Auf jeden Fall finde ich, dass es eine mutige und hoffentlich wegweisende Entscheidung von Matthias von Hartz und seinem Team war, das diesjährige Sommerfestival mit dieser nicht unbedingt für jeden Zuschauer leicht verdaulichen Produktion zu beginnen!


21.8.2012
Am Donnerstag höre ich zufälligerweise ein Interview mit Ted Geier vom Schwabingrad Ballett auf Deutschlandradio Kultur und setze mich spontan auf mein Rad um an die Hafenkante zu fahren und den Aufbauarbeiten im Park Fiction, unweit der berühmten Hafenstrassen-Häuser, beizuwohnen. Er berichtet humorvoll und nachdenklich von den gemachten Erfahrungen in Griechenland, denn das Künstlerkollektiv hat sich aktiv an den dortigen Demonstrationen beteiligt. So erfahren die Hörer wie breit die dortigen Aktionsbündnisse sind, dass Menschen in Pelzmäntel gewandet gemeinsam mit Autonomen demonstrieren und dass Produkte zum Schutz gegen das Tränengas dort in jedem Laden, wie Alltagsartikel, feilgeboten werden.

Von Donnerstag bis Sonntag fanden also zeitgleich mit und in unmittelbarer Nähe der Massenveranstaltungen Cruise-Days und Cyclassics, auf dem „Platz der unbilligen Lösungen“, Filmvorführungen, Diskussionen und mehr statt.
Leider habe ich es nicht mehr geschafft dort vorbeizuschauen, so ein Wochenende ist manchmal einfach zu kurz! Vielleicht können hier ja die geneigten Blogleser etwas dazu beitragen? Falls jemand von Euch da war, wir freuen uns über Kommentare!

Am Freitag ging es dann wieder auf das Kampnagel-Gelände zu ROSAS / Anne Teresa de Keersmaeker Vorab: Ich bin seit vielen Jahren ein großer Fan von Anne Teresa de Keersmaeker und so war ich mehr als gespannt auf das bereits 1984 entstandene Werk der belgischen Ausnahmekünstlerin. Mit viel Liebe zum Detail wurde dieses Stück, das damals nur relativ kurz im Repertoire der Kompanie war, rekonstruiert.

Begeistert hat mich, dass am Freitag 3 Tänzerinnen (darunter Anne Teresa de Keersmaeker selbst) auf der Bühne präsent waren, die bereits in der Originalversion mit von der Partie waren. Wir hatten die Chance einem Stück gelebter Tanzgeschichte beizuwohnen! Welch wunderbares Erlebnis die Tänzerinnen der verschiedenen Generationen gemeinsam die komplexen, in Abwandlungen sich wiederholenden Sequenzen tanzen zu sehen, den Atem der Bewegungen zu fühlen und zu verstehen, zu spüren, wie sich diese Essenz zur heutigen Arbeit einer Anne Teresa de Keersmaeker weiterentwickeln konnte! Diese unglaubliche feine Bewegungsqualität, diese Momente, in denen die Zeit eine Fraktion einer Sekunde stehenbleiben zu scheint, eine kleine gesetzte Geste, ein Atemzug, ein Blick in die nicht erwartete Richtung, das sind immer wieder diese Rosas-Momente die ich liebe und die mich stets erstaunen! Schade, dass viele Zuschauer für diese Magie nicht empfänglich zu sein scheinen! Viele verlassen am Freitag über die laut knarrende Zuschauertribüne die K6.

Nach der Vorstellung trinken wir noch ein kühles Bier auf dem Strohballen-Kunstwerk und ich freue mich über ein Treffen mit Irmela Kästner, Journalistin und Autorin eines Buches über Anne Teresa de Keersmaeker! Übrigens die geschnetzelten Autositzbezüge sind schön weich: Ich freue mich auf eine 2. Vorstellung am Sonntag! Als ich am Sonntag wieder die K6 betrete, wartet eine lustige Überraschung auf mich.

Eine Kollegin aus Süddeutschland sitzt direkt neben mir. Zufall oder Bestimmung? Egal, wir freuen uns einfach nur und teilen danach, bei einem kühlen Getränk, unsere einhellige Begeisterung, Ich freue mich auch, dass meine nicht aus der Tanzszene stammende Begleitung des Abends ebenfalls berührt und begeistert ist und so schaukeln wir Bier und Wasser trinkend zum Ausklang des Abends noch ein wenig plaudernd auf der großen Schaukel hin und her und genießen es, unsere Eindrücke auszutauschen.
 

Kommentare

Noch keine Beiträge

Ähnliche Artikel

basierend auf den Schlüsselwörtern