„Grapeshade“ von Ingo Reulecke
„Grapeshade“ von Ingo Reulecke

Improtanz in der Pool Hall

„Grapeshade“ von Ingo Reulecke frappiert auch in Münster

Münster, 27/11/2011

Wer Ingo Reuleckes neues Quartett für zwei Tänzer und zwei Musiker „Grapeshade“ im Sommer bei der Berliner Premiere im Musik-Experimentier-Keller „Ausland“ oder im Kreuzberger Nachtclub „Farbfernseher“ oder im „Café Kalenko“ am Prenzlauer Berg gesehen hat, kennt noch längst nicht die ganze Palette. Eigentlich müsste man mit dem Berliner Improvisationsexperten und seinen Performern Katharina Meves (Tanz), Biliana Voutchkova (Violine) und Klaus Janek (Kontrabass) durch die Lande ziehen und alle Vorstellungen besuchen.

Denn jede ist völlig anders als die vorige – und nie wird’s langweilig. Nicht einmal die Kostüme bleiben gleich: da sieht man Reulecke zum Beispiel als geschniegelten Dandy und die Geigerin im zauberhaft zarten, sommerlichen Abendkleid oder alle vier in Alltagsklamotten mit Lederjacken oder ganz lässig in Schwarz. Oder, wie jetzt beim Gastspiel in Münster, die zwei Frauen in Jeans und dunklen Rollis, Janek im beigen Anzug und Reulecke im weißen Jogging-Outfit. Das passt perfekt zum völlig informellen Ambiente, der „Pool Hall“ in einer ehemaligen Lagerhalle auf dem finster unwirtlichen Gelände des alten Güterbahnhofs.

Eingeladen in die westfälische Uni-Stadt hatte wieder die freie Gruppe „Freuynde + Gaesdte Theaterproduktionen“, die hier – wie Reulecke in Berlin - seit 12 Jahren die in Deutschland rare Spezies des „Location-Theater“ pflegt. 2006 war Reulecke beim Off-Festival „Vor Ort“ zu Gast und räumte den 1. Preis ab. Nun kehrt er zurück zum Auftritt in einem relativ geräumigen Hinterzimmer mit etlichen Billard- und Stehtischen, kleinen Sitzgruppen entlang den gekalkten Wänden (mit zierlichen Geweihen) und einer Mini-PC-Stereoanlage. Auf den Pooltischen liegen die Performer wie aufgebahrte Leichen. Die Geige liegt achtlos herum, der Kontrabass am Boden.

Ganz allmählich bäumt sich ein Körper auf, biegt sich zur Seite, kippt über, fängt sich. Mit affenartiger Behändigkeit und wagemutiger Artistik stürmt, turnt, hechtet Reulecke durch den Raum, umspannt, millimetergenau die Kanten mit den Fußspitzen abpassend, die Lücke zwischen zwei Pooltischen, fegt die Zuschauer gerade eben nicht aus dem Weg mit ausladender Gestik, knüllt sich zusammen, kauert sich nieder, reckt sich hoch, verdreht und verrenkt sich.

Schroff kratzt der Geigenbogen über die Saiten, pfeift peitschengleich durch die Luft, sticht in die Fensterscheibe. Hart klopft der Finger der Musikerin auf den Corpus. Dabei wandert und windet sich Voutchkova durch den Raum, weicht Zuschauern aus, die ständig ihre Positionen wechseln, unter die Tische lugen, in Deckung gehen, an den Wänden kleben. Meves ist wie Reulecke überall und nirgends, verfängt sich augenscheinlich zwischen zwei übereinanderliegenden Tischplatten. Selbst Janek traktiert seine Bassgeige nicht statuarisch, ist ständig in Bewegung durch die schmalen Gänge, liegt im Klinsch mit Reulecke. Bis auf das kaum wahrnehmbare elektronische Ostinato aus dem PC und hie und da ein leises Klirren von Tassen oder Gläsern trinkender Gäste, herrscht unheimliche Stille. Nach einer Stunde – und begeistertem Applaus – geht’s zurück aus dem Totenhaus in die Spielhölle. Und die 2. Vorstellung hier wird wieder ganz anders sein.

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