Zwischen Absturz und Rettung
„Die vier Jahreszeiten“ – ein Tanzabend von drei Choreograf*innen am Theater Münster
Lillian Stillwells mutiger spartenübergreifender Tanzabend „Jeanne d'Arc“ in Münster
Ihren ersten abendfüllenden Tanzabend als Chefin des Tanztheaters Münster widmet Lillian Stillwell am Großen Haus des Theater Münster Jeanne d'Arc, der französischen Freiheits-Ikone und katholischen Heiligen. Diese folgte ihrer inneren Stimme, Frankreich von der englischen Herrschaft zu befreien, bis in den Tod mit nur neunzehn Jahren auf dem Scheiterhaufen.
Stillwell liefert keine handlungssatte getanzte Biografie der „Jungfrau von Orleans“, mit König und Hof, Rittern und Schlachten samt finsterer Inquisition. Die Choreografin konzentriert sich auf den Aspekt, dass hier ein Mensch den Weg zu sich selbst geht, sogar um den hohen Preis des eigenen jungen Lebens.
Mutig kombiniert Lillian Stillwell den Tanz mit Chor und Percussion. Der Chor hat, ähnlich wie in der griechischen Tragödie, die allgemeine Meinung mit ihren Werten, Hoffnungen und Befürchtungen auszudrücken. Die italienisch gesungenen Texte aus den Prophezeiungen Leonardo da Vincis vom Ende des 15. Jahrhunderts, die der österreichische Komponist Beat Furrer in teils mittelalterliche, teils moderne Form gebracht hat, muss man als innere Stimme Johannas erahnen. Stillwell choreografiert den eindringlichen Part des Chores, ohne dass er eine szenische Rolle einnähme. Die aufwendige Percussion gibt der Szene ihren Rhythmus und gewinnt wie der Chor ein starkes Eigengewicht, das sich nicht selbstverständlich mit dem Tanz verbindet.
Der Tanzabend ist in die drei Szenen „Stimmen“, „Mut“ und „Zukunft“ gegliedert. Die Bühne ist in der ganzen Breite und hoch bis zum Schnürboden geöffnet, in „Stimmen“ grundiert der Chor im Halbdunkel und Bühnennebel die Suche Johannas nach sich selbst in der dunklen Zeit des Hundertjährigen Krieges. Während die Stimmen von Rausch, Verrat und Sturz raunen, erprobt Valerie Yeo als Johanna im weißen Ganzkörper-Trikot von Louise Flanagan ihre Möglichkeiten. In ihrem Solo herrschen klassische Ballett-Elemente vor, Spitzentanz, Pirouetten, weite Sprünge, in denen sie ein großes Bild von sich entwirft. Sie bezeugen ihre Kraft und Mut, auch unter Schmerzen ihren Weg zu gehen. Und das trotz der Zweifel, die sie immer wieder beugen, sodass sie mit den Armen ihr Bild von sich zu umfassen, zu halten sucht.
Erst später kommt das Ensemble von Tanz Münster dazu. In hellgrauen Ganzkörper-Trikots begleitet es Johanna, sie triumphal erhebend und in die Luft werfend, zu ihrem ersten Ziel: Spärlich sind die geschichtlichen Hinweise, ein eiserner Handschuh deutet ihren kriegerischen Weg an, eine Krone die Krönung des französischen Königs Karl VII. in der Kathedrale von Reims, die durch einen Dom aus Licht von Marco Vitale bezeichnet wird.
Schließlich ändert sich das Bühnenbild. Die vorherrschende Düsternis der historischen Zeit weicht. Eine helle Tanzfläche wird wie ein Teppich ausgerollt und von hinten mit gewaltigen Scheinwerfern angestrahlt. Doch statt der lichten Freiheit und Selbstfindung zwingt das Schlagwerk mit gewaltigen Schlägen die Tänzer*innen des Ensembles in den Gleichschritt. Wie Figuren einer Spieluhr drehen sie sich unter fremdem Kommando, das ihnen „eins, zwei, drei, vier“ vorschreit. Ihm entgeht nur die Figur der Jeanne, gedoppelt in Mann und Frau, während der Chor mit düsteren Gesängen über die Vergänglichkeit allen Seins an die Rampe tritt.
Der Tanzabend „Jeanne d'Arc“ steckt voller spannender Ideen, Bezüge und Anregungen. Er ist mutig in seinem spartenübergreifenden Ansatz und voll ästhetisch reizender und tänzerisch begeisternder Momente. Doch es sind die einzelnen Momente, die sich auch im Wege stehen. Wer ohne vorbereitende Lektüre des Programmhefts und der Gesangstexte in die Aufführung kommt, wird schwerlich den Zusammenhang von Text und Tanz erfassen und den Bogen von der historischen Jeanne d'Arc zum Heute schlagen können. In ihrer starken Eigenständigkeit sind Chor und Percussion kaum Stützen der Verständlichkeit des Tanzes.
Nach einer Stunde pausenlosen Tanzes dennoch Jubel, Trampeln und lange Standing Ovation des Premierenpublikums für alle Beteiligten, das Ensemble mit Mara Barbini, Amanda Cruz Portuondo, Yoh Ebihara, Hana Kato, Bartlomiej Kowalczyk, Wendel Lima de Alcantara, Sebastiano Mazzia, Juan Fernando Morales Londoño, Hera Norin, Enrique Sáez Martinez, Aline Serrano, Melina Solkidou, Valerie Yeo, den beeindruckenden Opernchor unter Leitung von Anton Tremmel, die virtuosen Percussionisten Relmu Levalle Campusano und Thomas Korschildgen, sowie Lillian Stillwell und ihr Team.
Die nächsten Termine: 8., 12., 21. und 25.2., jeweils 19.30 Uhr
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