„Die vier Jahreszeiten“ von Paloma Muñoz. Tanz: Ensemble

„Die vier Jahreszeiten“ von Paloma Muñoz. Tanz: Ensemble

Zwischen Absturz und Rettung

„Die vier Jahreszeiten“ – ein Tanzabend von drei Choreograf*innen am Theater Münster

Paloma Muñoz, Lillian Stillwell und James Vu Anh Pham haben ihre Choreografien unter die Frage der Verantwortung für unseren gemeinsamen Planeten gestellt, auf dem künftige Generationen die Jahreszeiten und andere unser Leben prägende Zyklen nicht mehr erleben werden.

Münster, 14/03/2023

Von Hans Butterhof

Der von James Vu Anh Pham choreografierte „Prologue“ zu einem Geräuschteppich von Jackie Jenkins ereignet sich mit je drei Tänzer*innen im Foyer und im Treppenhaus des Theaters. Die Choreografie zeigt verschiedene Versuche der Gruppe im Foyer, Verbindungen mit den anderen hinter der gläsernen Wand des Treppenhauses durch Lauschen an einer Säule, Ziehen an virtuellen Seilen und Berührungen durch das trennende Glas herzustellen. Doch die Sicht auf große Teile des Tanzes werden leider durch die Menge des Publikums im Foyer verdeckt, aus dem die Tänzer*innen dann ins Große Haus locken.

Das dort folgende „The Station“ von Gastchoreografin Paloma Muñoz zu den Musiken „Nocturne“ von Kaija Saariaho und „The Seasons“ von John Cage geht der Verbindung von uns Menschen mit dem übrigen Leben in der Welt nach. Sie beginnt mit einem Solo. Auf einem kalten Block wie einem Podest (Ausstattung: Stella Sattler, Jonathan Brügmann) erhebt sich ein Tänzer. Er bewegt geschmeidig alle Glieder, gibt sich kraftvoll und schaut schließlich, das Kinn auf die Hand gestützt, im sich blutig rötenden Bühnennebel provokativ ins Publikum. Da hebt sich ein zweiter Gazevorhang, und das Ensemble in marmorierten Trikots, gemustert wie der Tanzboden, füllt die Bühne mit elementaren floralen und kreatürlichen Bewegungen. Eine liegende Gruppe bildet Kopf an Kopf gelehnt eine Blüte, die sich rhythmisch öffnet und schließt. Andere bewegen sich insektenhaft ruckartig, an Skorpione erinnernd, die sich selbst in den Nacken stechen. Eine Tänzerin steht anfangs noch auf dem Rücken eines affenartig gravitätisch auf allen Vieren Schreitenden, bis dieser unter ihr zusammenbricht, als sei nun die menschliche Herrschaft über die Natur vollendet. Da können sich menschliche Beziehungen aufbauen, Köpfe sich zärtlich aneinander lehnen, Paare sich küssen und in gemeinsamen Parallelaktionen die Bühne queren. Doch als sie noch in einem frühlingshaft grün ausgeleuchteten Viereck zusammen tanzen, erlischt die Musik, die Bewegungen verlieren ihre Richtung, und beängstigend breitet sich Ungewissheit über die Zukunft der Menschheit aus.

Für das abschließende Stück zu Antonio Vivaldis Konzert „Die vier Jahreszeiten“ hat die Münsteraner Tanzchefin Lillian Stillwell das Titel-Thema auf die Gemeinsamkeit allen Lebens in unserer Welt ausgeweitet. In hellen, auf fortgeschrittene Zivilisation verweisenden Männer-Anzügen, unter denen aber die marmorierten Trikots der vorhergehenden Choreografie noch sichtbar sind, bildet das Ensemble manche Paarkonstellationen. Zärtlich halten sich die einen, bei anderen fehlt es an gleicher Augenhöhe, wenn einer den anderen kopfunter fest umschlungen hält. Manche Szenen sind von leidenschaftlicher Heftigkeit, von Vivaldis Kraft angetrieben, andere wieder still. Eine Szene mutet wie eine Beerdigung an, aber das Tote kann auch der Samen für neu Entstehendes werden. Doch dessen Zukunft erscheint unsicher: Ein Paar stürzt auf den Orchestergraben zu, schreckt aber vor dessen Tiefe zurück. Das wiederholt sich mit dem Ensemble, ist ambivalent Rettung oder unvermeidlicher Absturz von Unbelehrbaren.

Wunderbar sind die nie überwältigende Musik und die Bewegungen aufeinander bezogen. Ihr fließender Charakter reicht nicht nur in einzelnen Tänzer*innen von den Füßen bis in die ausgestreckten Arme, sondern breitet sich auch zwischen ihnen aus. Es sind die Beziehungen zu sich und den anderen, aus denen sich das Leben erhält. Doch wohin es gegenwärtig führt, bleibt offen. Wenn alle im Kreis laufen, erscheinen wieder ambivalent Harmonie und Ratlosigkeit angesichts der ewigen Wiederkehr des Abgrunds, vor dem die Menschheit diesmal so dicht steht wie nie zuvor.

Am Schluss wird sein marmoriertes Trikot sichtbar, als ein Tänzer sein Jackett auszieht und es auf den Boden legt. Es wird von einer Tänzerin aufgehoben, die daraufhin fragend ins Publikum schaut, als wollte sie ihm die Antwort aufgeben, ob es für die Zivilisation noch Rettung gibt und wenn, in wessen Händen sie liegen könnte.

Der Abend wird live begleitet vom Sinfonieorchester Münster unter der Leitung von Thorsten Schmid-Kapfenburg. Die begeisterten Standing Ovations des Premierenpublikums galten zugleich dem jungen zwölfköpfigen Tanzensemble, den Choreograf*innen und dem Orchester mit seiner virtuosen 1. Kapellmeisterin Midori Goto.

Die nächsten Termine: 21. und 30.03.; 04., 15. und 27.04., jeweils 19.30 Uhr, am 23.04. um 18.00 Uhr

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