Mitreißendes Psychogramm

„Tante Minnas Garten“ von Felix Landerer

Hannover, 06/09/2010

Wie einfach: Man nehme abendfüllende 80 Minuten, eine Bank, eine über den Köpfen hängende Baumkrone, Gläser, ein Kleid, passende Musik, dramaturgisch genaue Lichtwechsel und lege in „Tante Minnas Garten“ los mit einer gebrochenen, traurig-komischen Familienstory. Wie schwierig: Felix Landerer schlägt daraus mit langem Atem ununterbrochen Funken, breitet das tiefschürfende, dennoch unterhaltsame Psychogramm eines Familientreffens aus, bewegt mit seinem sehr flüssigen Stil, dessen Ecken und Kanten in den Nuancen aufscheinen, meist wie nebenbei, ausgekostet durch seine vorzügliche Kompanie mit Marta Lopez Caballero, Marcela Ruiz Quintero, Alexandra Braguti, Simone Deriu, Ruben Reniers.

Die Anfangsmusik, Piano, schlägt den Ton verquerer Romantik mit abenteuerlichen Harmoniewechseln an, zum Finale wiederholt sie sich: das Idyll ist brüchig, hohl. Perkussion, Geräusche, Grollen, ätherische Triller - Litmann breitet eine farbige Klangpalette aus und Landerer lässt sich darauf ein.

Schon im Begrüßungsritual mit Küssen und Umarmungen ohne Berührung offenbart sich die Verbindungslosigkeit der Familiengruppe. Landerer dreht durch im Raum verschobene Wiederholung den Pegel hoch. Bis zum Exzess wird die folgende Toast-Geste mit erhobenen Gläsern und Gesang „for she is a jolly good fellow“ ausgebracht, immer virtuoser und grotesker (und witziger) wird das Spiel mit den Gläsern, als wollten sie sich mit dem Überborden aus der Emotion herauswinden. Einer zieht die anderen manisch mit, bis sich eine der Fünf verweigert. Schon hier besticht die Souveränität Landerers, mit Stillleben, Repetitionen, subtilen Veränderungen die Atmosphäre zu verdichten.

Deutlich wird es in seinen sehr unterschiedlichen Duos, vom zärtlich-gewalttätigen Zweier mit gefährlichem Anstrich über das Bewegen einer erschlafften Frau, Puppe in den Armen des Mannes, bis zum mitreißend komischen Miteinanderringen eines Paares, das unter Stöhnen, Schnaufen, Seufzen, Prusten die Mühsal zueinander zu finden verkörpert.

Bis fast zum Zerbersten dehnt Landerer die Zeit in der erotisch gefärbten Umziehzeremonie, bei der einer Tänzerin im Liegen scheinbar umständlich ihr Kleid ausgezogen und das Kleid übergestreift wird, das beleuchtet wie ein Menetekel im Hintergrund hing. Hier wachen die Traumata, die Verwerfungen, Geister der Vergangenheit im Familienverband auf. Es fehlen die echten Kontakte: eine Baumkrone mit kahlen Ästen ohne Stamm. Nur kurz wird die Bank drunter geschoben als untauglicher Ersatz. Selbst wenn eine Frau im Duo ihre Abwehrhaltung aufgibt, vermag ihr „Partner“ nicht darauf eingehen. Die Trennung ist unüberwindbar. Landerer lässt sich dabei viel Zeit für die Kontrastierung und Verdichtung durch kleinste Gesten.

Mit Schrei nach Schrei nach Schrei – schließlich Gebrüll aller entlädt sich die Qual, der Überdruss. Eine wird anfangs ausgeschlossen beim Spiel auf der Bank, wie bei der Reise nach Jerusalem, endlich quetscht sie sich dazwischen. Ähnlich beziehungslos agieren drei in einer Episode: Zwei Männer ziehen, schleppen und heben mit der Bank eine Frau, die sich in immer neuen Posen an das Sitzmöbel klammert. Schließlich ballen sich alle zu einem Menschklumpen auf der Bank zusammen, die Arme fahren heraus wie Tentakeln, wiederholen endlos die Geste des Toastes. Ein beängstigendes Familienungeheuer. Die Musik des Anfangs ertönt, das Licht verlöscht allmählich.

In keiner Minute langweilig versteht es Landerer, unverkrampft, ohne spektakuläre Effekte, die Spannung suggestiv zu halten. Die Intensität seiner Ensembles bügelt die wenigen Durchhänger glatt. Er gibt den Betrachtern Raum für sehr unterschiedliche Sichtweisen, ohne je beliebig zu werden. Mit dieser Produktion bestätigt Landerer überzeugend seinen 1. Preis beim Hannoverschen Choreographiewettbewerb im April 2010 und präsentiert sich inmitten der Tanztheaterbewegung als besondere Begabung. Nichts wie hin.
 

Weitere Vorstellungen am 10. und 11.9., 17. und 18.9., 24. und 25.9., jeweils 20 Uhr.

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