Der Kampf der Latex-Königin

Jean Paul Gaultier kreiert Kostüme für „Schneewittchen” an der Deutschen Oper Berlin

Berlin, 24/04/2009

Bis in die 80er Jahre hinein führte das Kostüm im zeitgenössischen Tanz ein stiefmütterliches Dasein. Um sich von der oberflächlichen Pracht der klassischen Ballettgewänder abzusetzen, ließen moderne Choreografen ihre Tänzer in schlichten Trikots und Leibchen auftreten. 1985 veränderte ein Spektakel die Tanzlandschaft wie ein ästhetischer Donnerschlag: Régine Chopinots „Le Défilé” war ein von barocken Reizen überbordendes Gesamtkunstwerk, in dem sich eine Gruppe von Tänzern, Models und Schauspielern in einer Fülle von Stoffen tummelte, die ihre Körper zu bizarren Mutanten werden ließ. Riesige Plateaustiefel machten elegante Tänzerinnen zu klumpfüßigen Monstern, übergroße Herrenslips karikierten die ebenmäßigen Körper ihrer Partner, laszive Korsagen, Strapse und turmhohe Hüte feierten die Formenvielfalt der hedonistischen 80er Jahre.

Verantwortlich für diese zuvor noch nie auf einer Bühne gesehene Mischung aus bizarrer Märchenwelt, ironischem Verweis auf die Codes des klassischen Balletts und unverhohlenem erotischen Narzissmus war der Modemacher Jean Paul Gaultier, der schon damals als unangefochtenes „enfant terrible” der internationalen Haut Couture galt.

In den folgenden zehn Jahren entwickelten der neugierige Modezar und die Choreografin über 15 Stücke, in denen die Kostüme oft die Hauptrolle spielten. Überdimensionale Schulterpolster zwangen die Tänzer zu ungewohnten Bewegungen, Boxhandschuhe, Helme und grell bestickte Bademäntel befreiten den Tanz von seiner selbst auferlegten Ernsthaftigkeit und feierten einen Körper in ständiger Metamorphose, eine unbändige Lust an ständig neuen Verkleidungen.

Auch wenn sich der Modemacher in späterer Zeit mehr auf das Entwerfen neuer Kollektionen konzentrierte, glichen seine Modenschauen stets dramatisch aufgeladenen Bühnenspektakeln. Bis heute kann Gaultier sich seine Kreationen nur in Bewegung vorstellen. Auch seine Arbeiten für Film und Popmusik sind legendär: Der gefährlich aussehende raketenförmige BH, den er 1990 für Madonnas Bühnenauftritte entwarf, war weit mehr als nur ein Accessoire. Darin verband sich die Faszination für die Schönheit des weiblichen Körpers mit einer selbstbewussten Drohhaltung – Eros und Thanatos in goldglänzendes Latex gegossen.

Wenn sich am Sonntag Abend in der Deutschen Oper eine weißgekleidete Jungfrau und eine bedrohliche Domina in schwarzem Latexkorsett und Strapsen im tödlichen Kampf zwischen Jugend und erotischer Reife gegenüberstehen, ist dies zugleich die Feier von Gaultiers Rückkehr auf die Tanzbühne.

Angelin Preljocaj, der erfolgreichste unter den französischen Choreografen, hat den vielbeschäftigten Modeschöpfer als Kostümbildner für seine Neuinterpretation des Grimmschen Märchens „Schneewittchen” gewonnen. Für den Sohn albanischer Emigranten der sich nach längeren abstrakten Experimenten an ein Handlungsballett gewagt hat, um sich dazu zu zwingen „etwas Neues zu machen”, war Gaultier die perfekte Wahl: „Kaum ein anderer zeitgenössischer Modemacher schöpft so sehr aus der Welt der Märchen und des kindlichen Unterbewusstseins.”

55 Kostüme entwarf der Couturier für das Tanzspektakel und ließ dabei so manchen selbstironischen Verweis auf sein eigenes bisheriges Schaffen einfließen: So erscheint der Prinz als aprikosenfarbener Torero mit einem überdimensionierten Schulterpolster, das nicht von ungefähr an das von Leidenschaft, Homoerotik und Todestrieb getränkte Universum des spanischen Regisseurs Almodovár erinnert, für dessen Film „Kika” Gaultier im Jahr 1994 die Kostüme kreierte.

Preljocaj, der mit „Schneewittchen” im vergangenen Jahr mit seiner eigenen Kompanie in Frankreich triumphale Erfolge feierte, hat das Werk nun mit den Tänzern des Berliner Staatsballett neu einstudiert. Dabei dürfte nicht nur die ungewohnt moderne akrobatische Bewegungssprache für die klassisch geschulten Tänzer einige Herausforderungen stellen. Auch die Gaultier’schen Originalgewänder, die Dorothea Katzer-Dittrich, die Kostümchefin der Deutschen Oper, den Interpreten nach Anweisungen des Meisters neu auf den Leib schneiderte, haben es in sich: Denn so manche scheinbar mühelose Pirouette wird zur Knochenarbeit, wenn man dabei einen riesigen Reifrock, einen Helm mit Grubenlampe oder ein überdimensioniertes Seidenkleid mit sich schleppt.

In Paris wurde Gaultier nach der Premiere vor allem für die Zurückhaltung gelobt, mit der sich seine Kostüme in Preljocajs Gesamtkunstwerk aus Akrobatik, Drama und Musik einfügten – worauf der Modeschöpfer selbstbewusst antwortete: „Ich glaube, mein Stil ist stark genug, sich auch dann durchzusetzen, wenn ich mich unterordne.”

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