Der Schneewittchen-Komplex

Angelin Preljocaj studiert ein Märchen beim Staatsballett ein

Berlin, 11/04/2009

Für seine nächste Premiere am 26. April hat das Berliner Staatsballett einen choreografischen Superstar aus Frankreich verpflichtet. Angelin Preljocaj erforscht seit über 20 Jahren künstlerische Welten zwischen Popkultur, Experiment und zeitgenössischer Bewegungssprache. In Berlin soll der Sohn albanischer Einwanderer nun ausgerechnet „Schneewittchen” auf die Bühne bringen. Kurz vor Beginn der Endproben sprach Frank Weigand mit dem Choreografen über die neue Lust an der Narration und die Faszination an der Arbeit mit unterschiedlich geschulten Tänzern.

Redaktion: Ihre Arbeit an „Schneewittchen” ist in gewisser Weise eine Rückkehr zur Tradition des Handlungsballetts. Was hat Sie an diesem Genre interessiert?

Angelin Preljocaj: In den letzten Jahren habe ich mich hauptsächlich mit abstrakten konzeptuellen Projekten beschäftigt. Deshalb dachte ich, ich könnte durch die Arbeit an einem narrativen Stück etwas Neues lernen. Mir gefiel die Idee, ein Märchen zu machen, denn ich finde, dass wir in unserem Leben in regelmäßigen Abständen an unsere Kindheit anknüpfen sollten, um uns auf uns selbst zu besinnen. Rein formal finde ich die Märchen der Gebrüder Grimm äußerst interessant: Denn obwohl sie auf dem Höhepunkt der Romantik entstanden, sind sie sehr minimalistisch, fast modern.

Redaktion: Warum haben Sie sich ausgerechnet für „Schneewittchen” entschieden, und nicht zum Beispiel für „Aschenbrödel”?

Angelin Preljocaj: „Aschenbrödel” haben schon unzählige Choreografen vor mir adaptiert. Ich wollte aber etwas Neues erfinden. Gleichzeitig wusste ich, dass ich mich mit „Schneewittchen” als zeitgenössischer Choreograf in große Gefahr begab. Das hätte leicht vollkommen lächerlich werden können. Bei „Schneewittchen” denkt jeder sofort an die Bilder aus dem berühmten Disney-Film. Es ging also darum, alle Fallen und Klischees zu vermeiden. Außerdem ist „Schneewittchen” aus psychologischer Sicht ein extrem aktuelles Märchen. Da unsere Körper dank der Medizin und der Ernährungswissenschaften viel länger jung bleiben als noch vor wenigen Jahrzehnten, hat sich der Konflikt zwischen Mutter und Tochter zugespitzt. Ich sehe häufig Frauen auf der Straße, die mit ihren 45 bis 50 Jahren noch äußerst attraktiv sind und sich fast wie ihre Töchter kleiden. Und da fühlt man eine Rivalität. Die Mütter kämpfen um ihren Status als sexuell aktive Frau, den sie sich nicht durch das Muttersein nehmen lassen wollen. Wir leben in einer Ära des „Schneewittchen”-Komplexes.

Redaktion: Die Kostüme für „Schneewittchen” stammen von Jean Paul Gaultier. Wie verlief die Zusammenarbeit mit dem berühmten Modedesigner?

Angelin Preljocaj: Jean Paul Gaultier war der ideale Kostümdesigner für mich. Denn er schöpft seine Inspiration aus einem Universum, das viel mit der Kindheit und der Welt der Märchen zu tun hat. Als ich ihn fragte, war er sofort restlos begeistert. Ich stellte mir Kostüme vor, die so zeitlos sein sollten, dass sie beim Publikum Assoziationen an die unterschiedlichsten Epochen wecken könnten. Als die fertigen Kostüme im Probenstudio eintrafen, dachte ich, Gaultiers Arbeit sei nun zu Ende. Doch ganz im Gegenteil: Für ihn fing sie jetzt erst an! Er verwendete die Kostüme wie Rohmaterialien, die er den Tänzern individuell auf den Leib schneiderte.

RedaktionIm vergangenen Herbst haben Sie „Schneewittchen” erfolgreich mit Ihrer eigenen Kompanie aufgeführt. Werden Sie mit dem Staatsballett eine neue Version dieser Choreografie erarbeiten?

Angelin Preljocaj: Nein, es wird dasselbe Stück sein. Aber ich arbeite mit den Tänzer immer sehr viel an ihrer persönlichen Interpretation. Die Interpretation des Staatsballetts wird sich also sicher sehr von derjenigen meiner Kompanie unterscheiden. Das ist ein bisschen, wie wenn zwei unterschiedliche Orchester dieselbe Partitur aufführen.

Redaktion: Im Vergleich zu Ihrer eigenen Kompanie sind die Berliner Tänzer vor allem im klassischen Bewegungsvokabular geschult. Vor welche Herausforderungen wird Ihr „Schneewittchen” sie stellen?

Angelin Preljocaj: Die Herausforderung wird für sie vielleicht sein, ein gewisses Gewicht in ihre Bewegungen zu legen. Aber natürlich werde ich bestimmte Bewegungen so akzentuieren, wie es für sie am besten ist. Manche Dinge werden ihnen schwerer fallen, andere jedoch wesentlich leichter als meinen eigenen Tänzern. Mit dem Staatsballett werde ich zum Beispiel viel mehr mit dem Aspekt der Leichtigkeit arbeiten. Es ist faszinierend, wie sehr sich eine choreografische Phrase durch die unterschiedliche Physis und den unterschiedlichen Hintergrund der Interpreten verändern kann. Am Ende wird es so sein, als tanzten zwei Cousins das gleiche Ballett, jeder auf seine Weise.

www.staatsballett-berlin.de www.preljocaj.org Dieser Text erschien ursprünglich in der Ausgabe 03/04/09 des Magazins TanzRaumBerlin.

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