Im Dienste der Sache

Im Frankfurter Mousonturm eröffnet das Internationale Sommerlabor 2008 mit „En Servicio“

Frankfurt, 04/08/2008

Frankfurt drängt voran und will mit allen zur Verfügung stehenden Kräften wieder den Anschluss an die Tanzmetropolen Deutschlands bekommen. Wobei heutzutage natürlich regional und vernetzt agiert wird, das Projekt heißt offiziell „Tanzlabor 21 Rhein-Main“, Projektleiterin ist Melanie Franzen. Frankfurt ist eine von mehreren Tanzplattformen der Bundeskulturstiftung, Ziel ist die Verbesserung der Ausbildung für Tänzer, Tanzpädagogen und Choreografen. Die Ausbildungsoffensive ruht auf drei organisatorische Säulen, neben dem Mousonturm sind dies das Institut für Angewandte Theaterwissenschaften der Universität Gießen, vertreten durch Prof. Heiner Goebbels, und die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst, vertreten durch Prof. Dieter Heitkamp. An der HMDK wird seit dem vergangenen Wintersemester bereits der Masterstudiengang „Zeitgenössische Tanzpädagogik“ angeboten, an der Universität Gießen soll ab dem Wintersemester 2008/09 der zweijährige Masterstudiengang „Choreografie und Performance“ starten.

Die finanzielle Unterstützung für das Projekt ist auf fünf Jahre angelegt, der Bund gibt 1,2 Millionen, wenn Kommunen und Länder dieselbe Summe dazugeben. Frankfurt war die erste Stadt, die ihre Zusage gab, worauf Madeline Ritter, Projektleiterin von Tanzplan Deutschland, bei ihrer Begrüßung ausdrücklich hinwies, was Frankfurts Kulturdezernent Prof. Felix Semmelroth und der Ministeriumvertreter Alfred Zetzsche mit einigem Stolz zur Kenntnis nahmen.

Koordinationszentrum für das Tanzlabor 21 Rhein-Main ist das Künstlerhaus Mousonturm, dessen Leiter Dieter Buroch sich seit Jahrzehnten für die freie Tanz- und Theaterszene einsetzt. Seit dem 31. Juli ist der Mousonturm Austragungsort für das ersten Internationale Sommerlabor. Das Gebäude ist „vom Keller bis unters Dach“ von 60 jungen Menschen verschiedener Ausbildungs- und Berufsgruppen besetzt, die 14 Tage lang an verschiedenen Workshops teilnehmen. Die Nachfrage war wesentlich größer, es musste eine Auswahl getroffen werden. Thema ist die Produktion und Präsentation des zeitgenössischen Tanzes. Als Workshopleiter konnten namhafte Choreografen-Paare gewonnen werden: Richard Siegal und Christine Peters, Kris Verdonck und Alexis Destoop, Hooman Sharifi und Bojana Kunst, Janez Jansa und Joao Fiadeiro.

Mit dem Abendprogramm, bestehend aus Vorträgen und Vorstellungen, wird auch die Öffentlichkeit dazu geladen; auch dies geschieht unter dem Motto „Framing“ (Rahmung). Am Ende des Eröffnungsabends erhielt einer der Workshopleiter den Mouson-Award 2007/08, der mit 15.000 Euro dotiert ist und für eine neue Produktion verwendet werden muss. Richard Siegal (USA) wurde bekannt als herausragender Tänzer der Forsythe-Company, er tritt seit Jahren weltweit mit eigenen Choreografien hervor. Sein Solostück „The Bakery (As If Stranger)“ ist am Mittwoch 6. August zu sehen. Für die Eröffnung des Internationalen Sommerlabors 2008 konnte die Compagnie SOIT (stay only if temporary) des belgischen Choreografen Hans van den Broeck gewonnen werden. Ihr Stück „En Servicio“ ist mit Unterstützung verschiedener Institutionen entstanden, Uraufführung war 2006 in Wien, die Präsentation im Mousonturm war zugleich deutsche Erstaufführung. Das Thema des Stücks passte ausgezeichnet zum Rahmen der Veranstaltung.

Acht Tänzer treffen sich zum Coaching-Seminar, was bedeutet: gruppendynamische Prozesse und das Austesten der eigenen Grenzen, psychisch wie physisch. Die Choreografie ist hoch dynamisch, sie ist gekennzeichnet ist von körperlichen Kraftakten und dem Umkippen vieler Szenen in Gewaltausbrüche. Alles beginnt mit großem Witz, Leichtigkeit und Alltagsnähe: Die sechs Tänzer und zwei Tänzerinnen sitzen zunächst unerkannt im Publikum, geben Kommentare über das zu erwartende Bühnenstück ab oder erzählen einfach von sich. Dann finden sie sich nach und nach im Seminarraum (= Bühne) ein, mit allen Verhaltensformen: schüchtern, verklemmt, abweisend, neugierig, kommunikativ, dominant.

Unter Einsatz von schauspielerischem Können und zahlreichen Requisiten entstehen suggestive Momente des menschlichen Miteinanders. Dabei werden in gut 80 Minuten Aufführung vor allem Metalltische hin- und hergeräumt, die Hälfte davon auf Rädern. Anfangs gruppieren sie sich zu einem Internet-Café, in dem weiße, von hinten beleuchtete Plastiktabletts zu Computerbildschirmen werden. Doch der virtuelle Kennenlern-Chat mündet in einer realen Prügelei, weil sich ein Gesprächspartner veräppelt fühlt.

Besonders eindrücklich ist die Szene mit dem Fahrrad, in der zunächst auf akrobatische Weise Unfallsituationen simuliert werden, wo das Fahrrad dann aber zur Waffe mutiert. Die Knock-Outs werden derart körpernah ausgeführt, dass im Publikum so manches „Aua“ ertönt. Viele Alltagssituationen werden ideenreich durchgespielt, am Ende erweisen sich alle als brüchig. Die Grenze zur Eskalation ist immer greifbar nah und wird auch fast immer überschritten. Am Ende verschwinden die Tänzer als Individuen: Sie kriechen wie eine gleichförmige Masse über den Boden, bevor sie sich unter den Tischplatten festzurren und nur noch als Schatten zu erahnen sind. „En Servicio“ eben, im Dienste der Sache.


Link: www.mousonturm.de

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