In der Vorhölle zu Gast

„Le Sous Sol“ von Peeping Tom

Hannover, 08/09/2007

Gerade hat der Papst die Vorhölle abgeschafft, da schiebt sie das belgische Künstlerkollektiv „Peeping Tom“ beim Festival Tanztheater International ungerührt wieder auf die Bühne in der Hannoverschen Musikhochschule. Vor ausverkauftem Haus dekliniert die fünfköpfige Truppe (zwei Tänzer, Tänzerin, Sängerin, eine quicklebendige, achtzigjährige Alte plus Statisten) in „Le Sous Sol“, Teil einer Trilogie, rätselhafte unterirdische Verhaltensweisen durch. Auf einer Art bräunlicher Mutterboden, von einer Schaumunterlage unterfüttert, schießen die drei Tänzer Gabriela Carriza, Franck Chartier, Samuel Lefeuvre ein Feuerwerk an akrobatischem Fallen, an Bodendrehungen, Verklammerungen und unendlich variierten Rollbewegungen ab. Dabei sauen sich alle – wie schmutzbegeisterte Kinder - nach und nach tüchtig ein, Kleidung und Gesichter sind bald bedeckt mit dunklen Flecken. Im Hintergrund zieht sich in Hallenhöhe ein quer laufendes Vegetationsband, darauf links ein Baum, dessen Wurzeln in den Raum hineinragen, ein unbewegliches Mannsbild ergänzt die „Obererde“.

Erleuchtete Türöffnungen links hinten und rechts seitlich, aus einem Kellerfenster ergießt sich ein Erdstrom, der sich zum Hügel formt, bis zur Sitzfläche versenkte Sessel und Sofa schaffen eine surrealistische Aura. Krauchen plötzlich die Tänzer einzeln oder zu mehreren aus dem Hügel oder verschwinden darin, geschoben oder selbst eintauchend, verstärkt sich die „jenseitige“ Stimmung, die schon im Beginn gesetzt wird: Die alte Frau zündet ein Papierhäuschen an, kindische Laute murmelnd, aus denen sich „j’ai peur“ herausschält: Metapher für das Lebensende. Dann stürzt sich ein Mann in eine wilde Folge von halben Salti mit Landung auf dem runden Rücken: Auftakt zu einer Serie von Einer-, Zweier- und Dreier-Rollbewegungen, als wollten die Akteure ins Guinessbuch der Rekorde kommen. Als Solo gewinnt es manische Züge, im Duo Mann-Frau schwankt’s zwischen Vergewaltigung und Liebeskampf, im Trio gerinnt es zur immer noch bewundernswerten Akrobatik, mehr Selbstzweck als Ausdrucksmittel.

Da staunt der Zuschauer, welche Vorwärts-, Rückwärts- und Seitwärtsrollen aus den unmöglichsten Positionen das Künstlerkollektiv erfunden hat. Tanzt die Alte, scheint es simpel zu sein; treibt die Sängerin ihre üppigen Formen in einen deftigen Rocktanz mit schwingenden Hüften, ist es wirklich komisch - und sexy. Kommandiert die Sängerin Eurudike de Beul (Mezzosopran) in scharfem Ton, wird sie zur Wächterin der Unterwelt, quasi zur Zerbera, die immer wieder die Tänzerin stoppt, ihr verbietet, den Raum zu verlassen, ihre Tochter von der Schule abzuholen. Welche Tochter? Ist es doch kein Reich der Toten, angeregt durch Dostojewskis Erzählung „Bobok“ (Böhnchen), wie im Programmzettel angekündigt? Egal, es geht weiter mit dem Treiben, zur vielleicht längsten Kusssequenz der Tanzgeschichte: Alte (Maria Otal) und Mann küssen sich, lösen minutenlang die Münder nicht, während sie sich drehen und wenden. Nicht erotisch, eher kleberisch. Vielleicht die Qual der zwischenmenschlichen Beziehungen, ähnlich wie in Sartres Schauspiel Huis Clos (Bei geschlossenen Türen)?

So erstaunlich die körperliche Leistung der Tänzer ist, so absolut sich die alte Darstellerin und die Sängerin – sie singt auch aus Mahlers „Kindertotenliedern“ und aus Schumanns „Dichterliebe“ - mit ihren Parts verschmelzen – die Episoden stehen vereinzelt. Das mag auch Absicht sein, lässt allerdings die Reihenfolge beliebig erscheinen und die Spannung bald absacken. Das Erschrecken, der Schrecken haben hier keinen Platz, auch wenn zu Anfang und Ende von „clamare“ (schreien) zu dürren Orgelklängen gesungen wird.


Bis 9.9., 21 Uhr, Kunsthaus Tacheles, Oranienburger Str. 54-56, Mitte, Kartentelefon 0178/388 15 43 und 0172/15 98 601 (auch per SMS)

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