Paare und Passanten - nicht von Botho Strauss, sondern von Stephan Thoss

Das neue Programm des Hannover Balletts

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Hannover, 30/05/2005

Die dritte Vorstellung des Hannover Balletts mit dem neuen Programm. Montagabend, ein volles Haus, ein animiert mitgehendes Publikum, zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass Thoss in der Leine-Kapitale wirklich angekommen ist, dass die Leute seine Ballettarbeit mögen. Jawohl, Ballettarbeit: die Kompanie nennt sich wahrhaftig noch Hannover Ballett! Ich habe nicht alles gesehen, was er in Hannover gemacht hat, manches gefiel mir, anderes fand ich weniger überzeugend (zum Beispiel die viel gelobten Produktionen von „Schwanensee“ und „Othello“). Eins aber war immer klar: Thoss ist einer unserer eigenwilligsten Choreografen mit einer reichen, höchst persönlichen Bewegungssprache – und er ist einer unserer musikalischsten Choreografen.

Die Tänzer scheinen ihn zu lieben, kaum eine andere deutsche Kompanie scheint von einem derartig intensiven Corpsgeist durchdrungen. Die Vorstellungen knistern geradezu von elektrisierender Hochspannung. Und das gerade in ihrer vorletzten Saison, da die Auflösung, beziehungsweise Umstrukturierung bereits eine beschlossene Sache ist. Schade! Der neue, dreiteilige Abend (zwei Pausen, insgesamt zweieinhalb Stunden) ist dreiteilig und „Rachmaninow“ betitelt. Doch nur die beiden Rahmenstücke stammen von Rachmaninow: eine Auswahl der „Präludien“ und „Die Toteninsel“ (nach Böcklins Gemälde). Dazwischen stehen Sergej Prokofjews „Visions fugitives“ in der Orchesterfassung von Rudolf Barschei.

Die musikalische Qualität des unter dem Dirigenten Cornelius Meister musizierenden Staatsorchesters ist ausgezeichnet – die Interpretation der auf der Bühne von Max Vax gespielten Präludien konzertreif. Arne Walter hat die drei Bühnenräume entworfen, großzügig, dem Tanz viel Raum belassend – am eindrucksvollsten der Himmel über der „Toteninsel“, der mit lauter blutroten Tischen bestückt ist, die dann herabgelassen und herumgeschoben werden und vielseitige Verwendung finden. Manche der Kostümentwürfe von Katharina Meintke wirken ein bisschen gaga, und sehr seltsam nimmt sich Stephan Thoss aus, der auf der Toteninsel weißbehost, mit nacktem Oberkörper, herumstolziert und wohl den Tod mimt. Doch der Gesamteindruck der drei Stücke rundet sich zu imponierender Größe.

Es sind drei sehr verschiedene Stücke, alle auf flacher Sohle getanzt, ohne irgendwelche klassischen Anleihen – aber auch ohne alle Entlehnungen bei Kylián oder Forsythe, wie das heute sonst allenthalben der Fall ist. Die Herkunft ist eindeutig: der deutsche Ausdruckstanz – aber in sehr erweiterter, hochmodernisierter Form. Voller explosiver Energie. Thoss enthält sich aller anekdotischen-illustrativen Bezüge, erzählt keine Stories – und so sind denn auch die biografischen Verweise auf die Schaffenskrise von Rachmaninow solche der musikalischen Biografie, nicht solche des banalen Lebenslaufs. Thoss choreografiert sozusagen Innenbiografien der Begegnungen von Einzelnen und von Paaren – und immer wieder mit sich selbst. Und diese Innenbiografien offenbaren ein ungeheuer reiches Leben – und eine noch reichere Fantasie.

 Ganz und gar überraschend fand ich seine humoristisch-grotesken Expeditionen bei Prokofjew (er dürfte ein fabelhafter Choreograf für „Aschenbrödel“ sein – noch lieber aber sähe ich seine Version von „Chout“), ganz und gar hingerissen war ich von der wie Dynamit über die Bühne stiebenden ersten großen Solovariation in den „Präludien“ und deren formidablem Tänzer (Mauro de Candia?). Und höchst beeindruckt war ich auch, wie souverän er mit polyphon geführten Gruppen umgeht. Am meisten begeistert aber haben mich seine lawinenartig eskalierenden Massenensembles in der „Toteninsel“ – er sollte unbedingt einmal eine Mahler-Sinfonie choreografieren! Wie gesagt: der beste Thoss-Abend, den ich je in Hannover gesehen habe. Getanzt von einem auch technisch bravourösen Ensemble von höchst individuellen Solisten. Und sie alle durchdrungen von dem Bewusstsein, eine einzigartige Kompanie zu sein, wie wir keine zweite in Deutschland und wohl auch sonst nirgends in der Welt haben!

 

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