Ohne Charme, ohne Esprit

„Der Nussknacker“ à la Patrice Bart

Berlin, 18/12/1999

Peter Iljitsch Tschaikowskys „Der Nussknacker“ ist ein märchenhaft leichtes Ballett – und eben das ist das Schwere daran. Die hinreißend melodienselige Musik ist vollständig erhalten. Doch von der St. Petersburger Uraufführungschoreografie Lew Iwanows aus dem Jahr 1882 ist nicht viel übrig geblieben. Und das schon seinerzeit kritisierte, nicht eben schlüssige (und heutzutage alles andere als akzeptable) Originallibretto macht es jedem Choreografen, der sich an das Werk nach E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Der Nussknacker und der Mäusekönig“ wagt, geradezu zur Pflicht, seiner Inszenierung ein eigenes Konzept zu geben.

So in die Pflicht genommen fühlten sich offenbar auch Patrice Bart als (Gast-)Choreograph und Christiane Theobald, die Ballettbetriebsdirektorin und Dramaturgin des Balletts der Staatsoper Unter den Linden in Berlin. In der Vorweihnachtszeit stellten sie ihren neuen „Nussknacker“ vor. Dass sie sich um eine eindeutig eigene Lesart des Werkes bemüht haben, bei der das Original nichtsdestotrotz erkennbar bleiben sollte – das ist leider schon das Beste, das sich über ihre Produktion des Klassikers sagen lässt. Der Rest ist ein „Nussknacker“, wie er dem teuersten und nobelsten der drei Berliner Opernhäuser nur denkbar schlecht zu Gesicht steht.

Na ja, nicht der ganze Rest ist ein Ärgernis. Denn getanzt wird in diesem „Nussknacker“ rundum prächtig: Nadja Saidakova ist eine technisch brillante, strahlende Marie, die an der Seite des grandiosen Oliver Matz (dessen Rolle als Drosselmeier zur zentralen Figur dieser Inszenierung aufgewertet ist) ebenso formidabel und erfüllt tanzt wie mit Vladimir Malakhov als Prinz. Malakhov, der hier nur zwei Auftritte hat – nämlich zu Ende des ersten Aktes, wenn er an die Stelle eines Zinnsoldaten tritt, der in Maries Fantasie ihren verschollenen Vater symbolisiert, und in jenem Grand Pas de deux des zweiten Aktes, mit dem Marie und der Prinz ihre Verbindung feiern – wirkt bei all dem jugendlichen Elan, der ihm eigen ist, weiter gereift und offenbart auch hier, wo alles auf Technik, Linie und Stil konzentriert ist, dass er ein wahrer Prinzentänzer ist – und zwar einer der Güteklasse „Danseur noble“, der die puren Äußerlichkeiten der Danse d'école geradezu lebt und so sehr verinnerlicht, dass er die reine Form mit Sinn, Ausdruck und Gefühl zu erfüllen vermag.

Malakhov, eine Klasse für sich, wirkt dennoch nicht als Fremdkörper in dieser Aufführung. Denn das große, hervorragend klassisch trainierte Ensemble der Lindenoper tanzt ausnahmslos auf hohem Niveau. Ebenso spielt die Staatskapelle Berlin Tschaikowskys Musik unter der Leitung keines Geringeren als Daniel Barenboim, dem Künstlerischen Leiter und Generalmusikdirektor des Hauses, der schon bei Patrice Barts Berliner „Schwanensee“ von 1997 den musikalischen Teil der Aufführung zu einem Ereignis machte. Damals allerdings war auch der Inszenierung Erfolg beschieden.

Doch nun? Zu welch einer missratenen „Nussknacker“-Inszenierung spielt die Staatskapelle da auf! Welch einen traurigen, belanglosen, düsteren „Nussknacker“ hat das Ballett der Staatsoper Unter den Linden zu tanzen! Das Verhängnis deutet sich schon mit Luisa Spinatellis geschmäcklerischer bis uninspirierter Ausstattung an: Klassizistische Großbürgersäle und bühnenbildnerische Hilflosigkeit (am krassesten in Gestalt einer lieblos in den Raum gestellten Wand, die nur dazu dient, die Vorbereitung des nächsten Auftritts zu verbergen und ansonsten herzlich hässlich dasteht) gehen eine weitgehend in blassen Farben gehaltene Mesalliance ein.

Und Patrice Bart, der stellvertretende Direktor des Balletts der Pariser Oper, inszeniert in diesem überwiegend düsteren Ambiente einen „Nussknacker“ ganz ohne Charme, ohne jeden Esprit – und in einem Vokabular, das den Tänzern zweifellos viel abverlangt, aber durch und durch alltäglich, wenn nicht gar rückwärtsgewandt zu nennen ist. Die Inszenierung ist von A bis Z eine einzige Enttäuschung.

Mit Christiane Theobald hat Bart ein neues Libretto ausgetüftelt, das durchaus anspricht: Marie ist hier die Adoptivtochter der Familie Stahlbaum. Einst wurde sie entführt und von ihrer Mutter, einer Großherzogin, getrennt. Mit ihren Stiefgeschwistern Luise und Fritz versteht sie sich nicht sonderlich gut, und nur Drosselmeier findet Zugang zu ihr: Er ist ein Astronom und hellsichtiger Mann, der durch die Zeit reisen kann. Nach einer Fahrt im Heißluftballon durch das Land der Schneekönigin wird er Marie nicht nur mit dem Prinzen vereinigen, sondern auch mit ihrer Mutter wieder zusammenführen. Das ist, als Libretto, durchaus diskutabel. In der Umsetzung auf der Bühne der Berliner Staatsoper jedoch ist es ein trauriger Flop. Da stellt sich nichts, aber auch gar nichts von dem Zauber und dem Charme ein, den Tschaikowskys Musik verbreitet. Da hilft kein Schneegestöber beim Auftritt der Schneeflocken und kein quasi-neoklassisches Arrangement des Blumenwalzers.

Ebenso wenig vermögen die virtuosen Kunststückchen im Divertissement des zweiten Akts irgendetwas an diesem banalen Abend zu retten. Denn die Geschichte, die Bart erzählen will, vermag er nicht einmal ansatzweise einleuchtend darzustellen (man kann sie zum Glück im Programmheft nachlesen), von inszenatorischem Schwung, von Raffinesse und Leichtigkeit und choreografischem Esprit gar nicht zu reden. Alles an dieser Balletterzählung wirkt, obschon sie sich um eine möglichst zeitgemäße Klassik und um psychologische Plausibilität bemüht, entweder verstaubt oder unendlich bemüht. Nach dem Misserfolg seines Verdi-Balletts „Verdiana“, das Patrice Bart im Juli 1999 in Berlin uraufführte, ist dieser „Nussknacker“ ein weiterer, schwerer Fehlschlag für das Staatsoperballett.

Die Kompanie sträubt sich zur Zeit noch immer heftig dagegen, in das neue „BerlinBallett“ eingebunden zu werden, unter dessen Dach künftig alle drei Berliner Ballettensembles vereinigt sein sollen. An der Staatsoper Unter den Linden, dessen Ballett zu den klassischen Top-Kompanien in Deutschland zählt, möchte man statt dessen lieber seine künstlerische Unabhängigkeit bewahren. Auf Dauer wird man diese Position allerdings nicht halten können, wenn die großen neuen Produktionen des Ensembles von einem Choreografen betreut werden, der unter den (Neo-)Klassikern seiner Generation offenkundig zur dritten oder vierten Garnitur gehört. Und dass profilloses Ballett-Handwerk im Stile dieses „Nussknackers“ Wasser bedeutet auf die Mühlen der hier zu Lande traditionell starken Opposition zu allem, das sich auf der Grundlage der Danse d'école bewegt, macht Patrice Bart eher zu einem potentiellen Totengräber als zu einem Bewahrer des klassischen Tanzes in Berlin.

Kommentare

Noch keine Beiträge