„Nüsseknacker“ von Stephan Thoss, Tanz: Ensemble

Loriot feiert immer noch Weihnachten

„Nüsseknacker“ in Mannheim: Stephan Thoss kreiert einen weihnachtlichen Theaterspaß

Die Geschichte einer Läuterung ohne Weihnachtsnostalgie

Mannheim, 19/12/2022

„Der Nussknacker“ gilt als das Weihnachtstanzstück schlechthin. Die Geschichte bringt alles mit, was das Publikum seit 125 Jahren begeistert: ein weihnachtliches Märchen um ein Mädchen und einen verzauberten Prinzen, bevölkert von zum Leben erwecktem Spielzeug und Märchentieren. Garant für den anhalten Erfolg ist nicht nur das Weihnachtsflair, sondern Tschaikowskis längst ohrwurmtaugliche Ballettmusik.

Aus zeitgenössischer Sicht steht die Originalchoreografie allerdings unter Kitsch- und Klischeeverdacht, von den offensichtlichen Schwächen des Librettos – das allzu viele reine „Tanznummern“ aneinanderreiht – ganz abgesehen. Wie also umgehen mit der Herausforderung, einen aktuellen „Nussknacker“ zu kreieren? Viele zeitgenössischen Choreograf*innen haben das beliebte Stück nur mit spitzen Fingern angefasst und gehörig gegen den Strich gebürstet. Im Stuttgarter Ballett hat man sich aktuell für die ganz große Lösung entschieden: eine repertoiretaugliche Adaption für die große Bühne, mit viel Respekt vor der historischen Vorlage, aber auch kritischer Analyse und Feingefühl für den Zuschauerblick von heute. Für das Riesenprojekt konnte der gesamte Theaterapparat mit Orchester, Chor, Ballettschule und riesiger Kompanie mit berühmten Solisten genutzt werden – bei einer Vorbereitungszeit von drei Jahren.

Von solchen Bedingungen kann der Mannheimer Ballettchef Stephan Tanz nicht einmal träumen. Seit dieser Spielzeit ist das Nationaltheater reparaturbedingt geschlossen, und die Fertigstellung von Ausweich-Spielstätten samt Ankündigung eines Programms für diese Spielzeit verlief höchst chaotisch.

Die Tanzsparte hat einmal mehr das Nachsehen. Als Interimsbühne steht schwerpunktmäßig das „Tanzhaus“ zur Verfügung, mit Studiocharakter und 200 Sitzplätzen. Eine Produktion in der laufenden Spielzeit darf an der Ausweich-Spielstätte für das Schauspiel, dem Alten Kino Franklin, gezeigt werden. Auftritte im künftigen Opernzelt? Fehlanzeige.

Und was macht Stephan Thoss in dieser misslichen Lage? Er stampft einen „Nüsseknacker“ aus dem Boden oder vielmehr auf den Tanzboden, bei dem das Publikum alle Gründe hat, hellwach zuzugucken – Weihnachtsnostalgie ist natürlich nicht im Angebot. Stephan Thoss erzählt die Geschichte einer Läuterung: Die Hauptfigur Marie ist nicht wie im Kunstmärchen von E.T.A. Hoffmann ein Vorzeigemädchen, sondern eine verwöhnte Göre. Tänzerin Jessica Lu peitscht mit ihren pinkfarbenen Zopfschleifen ärgerlich über unerwünschte Geschenke wie eine Stoffpuppe oder einen hölzernen Nussknacker. Die Erwachsenen sind, ganz wie im wirklichen Leben, von den weihnachtlichen Ansprüchen höchst überfordert.

Stephan Thoss – der gerade seinen Vertrag bis 2028 verlängert hat – läuft eingangs zu großer choreografischer Form auf. Der Weihnachtsstress der Großeltern und Eltern nimmt in schönster Übertreibung ritualisierte Formen an. Dafür hat der Mannheimer Ballett-Intendant hat eine kraftvolle, höchst ausdrucksstarke, athletische Tanzsprache außerhalb gängiger Zuschreibungen entwickelt, die Satire ohne Klamauk möglich macht. Bis die pubertierende Marie vom Egoismus ablässt und aktives Mitgefühl zeigt, ist allerdings noch viel Einsatz von Drosselmeier (Albert Galindo) nötig.

Mäusekönig, unheimliche Ratten, ein verwunschenes Prinzenpaar und jede Menge schräges Show-Business sind die Zutaten, aus denen Thoss sein 75-Minuten-Stück strickt. Damit nicht genug, gibt er dem Publikum jede Menge Nüsse (sprich Rätsel) zu knacken. Das fängt schon mit der Musik an, in der sich Hits aus dem „Nussknacker“ munter mit Leihgaben aus Tschaikowskis „Dornröschen“ mischen.

Und dann sind da noch die Bezüge zu Loriot, dessen Anti-Adventsgedicht sich auch im Jahr seines 99. Geburtstags großer Popularität erfreut. Ebenfalls unvergessen sind berühmte Sketche von Vicco von Bülow mit Evelyn Hamann – vor allem in den Kostümen und Show-Auftritten hat Thoss viele Anspielungen auf das legendäre Paar untergebracht, von Kennern im Publikum mit Glucksern kommentiert. Das Mannheimer Tanzensemble meisterte in vielen verschiedenen Rollen den vorweihnachtlichen Theaterspaß mit Bravour und zur Freude des Publikums.

 

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