„B“ von Siamese Cie / Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero

Kraftgeborene Entschleunigung

33. Festivalausgabe von Tanztheater international in Hannover

Boxen, Hip-Hop, Pirouette – Tanztheater international zeigt die Vielfalt zeitgenössischer Ausdrucksmittel: mit Hofesh Shechter, Kyle Abraham, der Kompanie ALDES und Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero.

Hannover, 10/09/2018

Die Offenheit des zeitgenössischen Tanzes für alle möglichen Bewegungsformen ist groß, das zeigte die aktuelle Ausgabe des Festivals Tanztheater international in Hannover exemplarisch. War lange Zeit das erzählerisch-assoziative Tanz-THEATER vorherrschend, schien in der 33. Festivalausgabe der Reiz neuer Bewegungs-FORMEN bestimmend. Wenn diese dann wieder Ausdruck und Aussage zugeführt werden wie bei „B“ von Koen Augustijnen und Rosalba Torres Guerrero, kann man das nur begrüßen.

„B“ steht für Boxen, aber auch das Sein (sprich „be“). Der schwarze Boxer tritt erst mal im schwarzen Anzug auf wie der Fight-Manager, schaut seelenruhig ins Publikum und schiebt sich den Gebissschutz rein. Na, dann kann’s ja losgehen.

Aber als der Schwarze mit nacktem Oberkörper wiederkommt, gibt’s auch nicht gleich was in die Fresse. In dem Tanzstück geht es mehr um die Riten der männlichsten aller Sportarten, das muskulöse Posing, die Provokation mit rotierender Zunge, das gekonnte Tänzeln der Boxer, das dem Dasein plötzlich eine Leichtigkeit und Schönheit gibt, die dem Drohgebaren widerspricht. Da werden Schwinger und Ausweichen zu einem rhythmisch präzisen Körperspiel.

Die Choreografen spüren mit der Siamese Cie aus drei Profi-Boxern und sieben Tänzern solchen Momenten des Übergangs nach, gerade auch der intimen Einsamkeit des Boxers inmitten des Show-Hypes. Wenn etwa das Korsett des Kampfes aufbricht, die Boxer ringend aneinander lehnen, vom Gegner gehalten oder getragen werden.

Auch zwei Frauen schlüpfen in die Rolle, lassen im langen Verweilen Gesicht an Gesicht, im Schwitzkasten eine Sehnsucht nach Geborgenheit erkennen. Und in Zeitlupe setzt der Gegner seine blutgetränkte Faust dem anderen auf jedes Körperteil. Das spritzt, das sollte wehtun, zu Passionsmusik vereinen sich Schmerz und Kult, der Sieger schnüffelt wie ein Hund um das Opfer. Alle Aspekte des Boxens werden überzeugend in neues Licht gerückt, die Bewegungen von den Tänzern integriert, aber auch mal mit Boxhandschuhen an allen vier Extremitäten konterkariert. Und die Boxer wiederum lassen sich mit in die Diagonalen der Klassik ziehen, gerahmt von Boxsäcken statt kleiner Schwänchen. Klasse.

Hofesh Shechter brachte mit seiner Jugendcompany seine „Show“ zur Deutschen Erstaufführung nach Hannover. Sein Stück geht auf barocke Muster zurück, präsentiert uns die Tänzer erst halbangezogen, dann kostümiert, zuletzt in der Applausregie oft mit schlenkernden Gliedern wie Marionetten an unsichtbaren Fäden. Sie haben verschiedenste Mordgesten drauf, mal von hinten wie mit dem Messer durch die Kehle, mal der ausgestreckte Pistolenarm, das alles auch synchron und im Staccato. Rübe-ab gehörte ja auch im Kasperltheater schon zur Show. Den Liebesaspekt solchen volkstümlichen Barocktheaters greift Shechter dagegen nicht auf. Und es fehlt leider auch das Aufbrechen der Figuren, die Darstellung davon, was sie treibt, quält, bewegt. Die Tänzer kommen uns vor der Verkleidung nicht privater vor als währenddessen. Hinter der Maske eine Leerstelle? Oder wieder eine Maske, weil das Leben immer Show ist? Wer wäre der Strippenzieher? Das Stück bleibt zu selbstverliebt im einen Stil; und selbst wenn die Tänzer das kohärent umsetzen, ist das auf Dauer nicht fesselnd, weil ohne Entwicklung. Die Figuren gewinnen keine Persönlichkeit.

Da waren die vier Tänzer der Kompanie ALDES, die Roberto Castello in seinem Stück „In girum imus nocte et consumimur igni“ nach Hannover brachte, in ihrem trotzigen Anschlurfen gegen die absurde Welt schon suggestiver. Das Motto „Wir durchlaufen die Nacht, verschlungen vom Feuer“ ist auch ein Rückgriff auf ein quasi antikes Modell, das des stetig sich mühenden Sisyphus mindestens, aber es geht nicht um Rollenspiele, wir sind nach wie vor als Menschen in die Welt geworfen, Leben ist Trotz, und wenn es süß war, so ist es Arbeit gewesen.

Die vier schwarz gewandeten Gestalten machen uns nichts vor. In einer konzentrierten Versuchsanordnung wie bei Samuel Beckett wagen sie bloß, zu existieren. Schwarzer Schnee rieselt vom Video, Dunkel herrscht, mit wechselnden Lichtfenstern nach Ansage eines Spielleiters aus dem Off: dark/light, mehr Abwechslung gibt es nicht. Erst wackeln die Tänzer nur mit den Köpfen, nachher vereinzeln sie sich, es gibt ein paar heroische Gesten im Freeze, eine sieht sogar nach Sex aus, es gibt auch eine Polonaise, meist aber eher emotionsloses Antrotten gegen den Sturm der Sinnlosigkeit. Das ist herrlich unzeitgemäß, in den Mitteln wie den Bewegungen. Und irgendwie immer echt. Manche Zuschauer setzte es in Trance, für andere war die Idee nach kurzer Zeit geklärt. Sie veränderte sich nicht mehr. Es war eine. Sie war gut. Und wahr.

Aber klar, die große Auffrischung bringt seit Jahren der Hip-Hop ins Tanztheater. Traditionell stark vertreten bei Tanztheater international, gab es auch diesmal verschiedene Positionen der Anverwandlung. Kyle Abraham hatte in „Live! The Realest MC“ den Hip-Hop selbst thematisiert als machistischen Tarn-Code, den er sich einst aneignete, um nicht erkannt zu werden, und nun aufgearbeitet zu einem weicher gelagerten Freestyle mit auch Klassik-Anklängen, weil eben jeder seine individuelle authentische Ausdrucksform finden muss.

Für den Pariser B-Boy Saido Lehlou und seine Gruppe Black Sheep ist diese authentische Ausdrucksform eindeutig der Hip-Hop, und sie können darin alles sagen, was sie bewegt. Sie haben lediglich das Battle-Geprotze herausgenommen und konnten ihn nun in Hannover bei der Uraufführung von „Wild Cat“ zu wunderbar weichen Erkundungen hinter den Image-Fassaden nutzen. Nicht die Virtuosität des Headspins oder die Kraftmeierei der Waage auf einer Hand zählen nun, sondern dass diese Kraft Figuren so herrlich entschleunigt, dass man dem Entstehen der Gefühle in der Länge dieses Handstands nachspüren kann.

Und wenn die in die Luft gestreckten Beine der Boys dann zu kommunizieren beginnen, sie nachher ihre Körper um- und übereinander verschachteln können, ohne sich zu berühren, dann sind das berührende Bilder für die Sehnsüchte, die sich manchmal nicht zu artikulieren wagen. Eine schöne poetisch-melancholische Arbeit, ganz aus Hip-Hop-Formen, wodurch die Lesbarkeit dieser inzwischen als altmodisch tabuisierten Gefühle auch für Jugendliche von heute erleichtert wird. Das muss eben nicht aggressiv überrappt werden, die Einsamkeit wohnt auch im Hip-Hop (und im Boxer, siehe oben). Emotionsvielfalt ist möglich. Und Hip-Hop ist dabei nicht mehr artistische Zutat, sondern ein Ausdrucksmittel, das sich außerhalb des Battle-Kanons nutzen lässt. Willkommen im Club!

 

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