Shanghai goes Riom
Aus der chinesischen Metropole ins schweizerische Bergdorf
Zwei weitere Uraufführungen im Reigen des Tanzsommers beim Origen-Festival
Es geht Schlag auf Schlag beim Origen Festival, mit den beiden Premieren dieser Woche sind bereits sechs Uraufführungen über die Bühnen Rioms gegangen, zwei weitere folgen. Es ist beachtlich, welche Persönlichkeiten aus der Tanzwelt sich hier innerhalb eines Monats die Klinke in die Hand geben.
Sowohl Juliano Nunes als auch Lucas Valente stammen aus Brasilien, sind aber schon lange in Deutschland bzw. der Schweiz ansässig. Ihre Kreationen sind in Ausgestaltung (des vorgegebenen Märchen-Themas) und Stimmung –wiederum ganz unterschiedlich.
Am Nachmittag in der Burg: „Lost Voices“
Für die Burg Riom hat Juliano Nunes für die freischaffenden Tänzerinnen Ève-Marie Dalcourt, Amanda Rae Mortimore und Nicha Rodboon „Lost Voices“ kreiert. Er selbst tanzt auch, eine enigmatische Figur, den „keeper of lost souls“.
In hochgeschlitzten Roben (Kostüme: Youssef Hotait) und Abendhandschuhen über den freien Armen wecken die Vier ihre Stimmen auf, klopfen auf den Brustkorb, auf den Körper, zählen sich aus der Stille in Ekstase, recken die Arme ins düstere Blau. Schon bei dem ersten Duett von Juliano Nunes mit Amanda Rae Mortimore fasziniert - wie bei allen Duetten in dem Stück – wie sie den den Körperkontakt nie abreißen lassen. Es entstehen fragile Geflechte zwischen, die sich ständig neu verweben und wie durch unsichtbare Magnete stets an mindestens einem Punkt des Körpers zusammengehalten werden.
Fragmentierung
Der Tanz offenbart zerrüttete Innenwelten und auch „Lost Voices“ insgesamt wirkt fragmentiert. Ève-Marie Dalcourt beeindruckt in einem expressiven Solo, das sie in die Welt des Wahns schickt. Einen weiteren Moment der ultimativen Verzweiflung liefert Juliano Nunes, laut schluchzend am Boden liegend. Beide begleiten den Tanz immer wieder mit etwas verquastem, akustisch nicht immer gut zu verstehendem Text. Auch Nicha Rodboon endet ihr sanftes und ausdrucksstarkes Solo zu Nina Simone's „Lilac Wine“ mit – vermutlich schwermütigen – Worten in ihrer Muttersprache Thai.
Choreografisch ist „Lost Voices“ stark, schafft in Kombination mit dem Licht von Lukas Marian eindrucksvolle Bilder, verliert sich aber mit (oder durch?) zu viel gesprochenem Wort etwas in sich selbst.
Am Abend in der Clavadeira: „A House without Walls“
Drei Stunden später sorgt Lucas Valente in der Clavadeira mit „A House without Walls“ für ein großes Premieren-Erlebnis. Er erzählt kein Märchen im eigentlichen Sinne, orientiert sich aber an der Morphologie dieser Erzählform, die sich in Heimat – Aufbruch – Rückkehr subsumieren lässt. Das Werk, in Shanghai für fünf Tänzer*innen des Xiexin Dance Theatres entstanden und nun in Graubünden uraufgeführt, ist ein Höhepunkt, der alle Zuschauenden mitreißt.
Sublime Tour de Force
Schon die ersten 20 Minuten des einstündigen Stücks entfalten – unter dem großen Mond an der Bühnendecke - eine atemlose, berückende und sublime Tour de Force. Was Yu Li, Shao Yu Wang, Yu Qui Liu, Ge Yu Zhang und Yan Zhang bieten, ist von einem Tempo, einer Einheit und einer Bewegungsqualität, für deren Beschreibung jedes Adjektiv banal scheint. Lucas Valentes herausfordernde Choreografie birgt eine aberwitzige Menge an Schrittmaterial. Die Fünf geben dem Tanz einen derart durchlässigen Fluss, dass je kaum ein Anfang und ein Ende ihrer Bewegungen zu erkennen ist. Wie ein kleiner rastloser Schwarm pulsieren sie unablässig über den blauen Bühnenboden. Fast so, als sei noch eine höhere Kraft als Motor im Spiel, der sie zusätzlich mitbewegt. Kurz vor der ultimativen Verausgabung, unerbittlich getrieben von Jon Hopkins hypnotischer Musik, aber immer fokussiert, dazu teils auf Chinesisch das mitzählend, was nicht zählbar erscheint. Diese Turbosequenz lässt immer wieder auch an chinesische Kampfkunst in Vollendung denken, in der die magische Verbindung zwischen absolut souveräner Präzision, Fluidität und geistigem Eintauchen in Bewegung und Moment nie abreißt.
Es folgt ein Innehalten (doch als Quartett wird sich bald die Rasanz fortführen). Alle entledigen sich ihrer schimmernden Oberteile, nur Yuqi Liu wird daran gehindert, dasselbe zu tun. Wie eine Ausgestoßene wird sie von dannen ziehen. Ganz berührend ihr erstes Solo. Und wie ein zartes Vögelchen, das fliegen lernen will, tastet sie sich später auf die Treppen in den Schatten des Mondes (Licht: Lukas Marian). Lucas Valente hat in diesem Werk, das keine Geschichte ist, aber doch so intensiv erzählt, auch für die anderen Vier in Soli und Duetten individuellen, poetischen Raum geschaffen. Man begreift schnell, warum Lucas Valente unbedingt mit ihnen arbeiten wollte.
Die Choreografie geht eine überirdisch schöne, kraftvolle und zärtliche Symbiose ein mit dem kaum fassbaren Können der chinesischen Tänzer*innen. „A House without Walls“ lässt ehrfürchtig staunen.
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